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Calais

Mehr Ankünfte, anhaltende Prekarität

Einem Bericht der Lokalzeitung La Voix du Nord vom 26. Juni 2020 zufolge ist die Anzahl der im Jungle und den übrigen Camps von Calais lebenden Geflüchteten seit dem Ende des Confinement (französische Ausgangsbeschränkungen) stark gestiegen. Bezugnehmend auf die NGO Utopia 56 könne aktuell von 1.000 bis 1.200 Migrant_innen ausgegangen werden. Die Lebensbedingungen der Menschen und die hygienischen Zustände seien nach wie vor sehr schlecht. Neben dem Hauptsiedlungsplatz rund um die Rue des Huttes und Rue des Garennes im Industriegebiet Zone des Dunes, wo hauptsächlich Geflüchtete aus dem Sudan, Eritrea, Afghanistan und Iran leben, existieren kleinere Jungles in der Nähe des Stade de l’Épopée, im Gewerbegebiet Marcel-Doret sowie in der Nähe des Krankenhauses.

Von staatlicher Seite werden diese Zahlen jedoch bestritten. Zwar gehen auch diese von einer Steigerung aus, halten die Zahlen von Utopia 56 jedoch für übertrieben und sprechen von 700 bis 750 Personen aus. Dieses offizielle Bestreiten der von den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen ermittelten Zahlen ist eine seit Jahren etablierte Routine.

Als Gründe für den Anstieg werden die Rückkehr der Geflüchteten aus den zu Beginn der Pandemie eingerichteten Unterkünften (siehe hier) sowie die Öffnung der Grenzen angesehen. Ein weiterer Grund seien die erfolgreichen Bootspassagen der letzten Monate. Nach unseren Recherchen greifen diese Erklärungen zu kurz. Denn zum einen sind viele der über 600 Migrant_innen, die sich während der Pandemie in vorübergehende Unterkünfte bringen ließen, bereits nach kurzer Zeit wieder nach Calais zurückgekehrt, während trotz der Grenzschließungen weiterhin neue Menschen in Calais eintrafen (siehe hier (englisch) oder hier (deutsch)). Außerdem dienen der Jungle und die übrigen Camps in Calais kaum als Ausgangsbasen für die Bootspassagen über den Ärmelkanal, sondern sind eher Orte, an denen sich diejenige sammeln, die eben nicht über die finanziellen Mittel für solche Überfahrten verfügen oder erst noch Orientierung suchen – diese seit Jahren gemachte Beobachtung wurde uns Anfang Juni durch die zivilgesellschaftliche Auberge des Migrants bestätigt.

Das migrationspolitische Portal InfoMigrants wies am 26. Juni 2020 darauf hin, dass nun doppelt so viele Geflüchtete in Calais leben als vor einem Jahr. Als wir im Februar 2020 in Calais recherchierten, lebten dort bereits rund 1.000 Personen in den Camps, und ihre Zahl fiel während der Pandemie wohl nie unter diese Marke. Dies bedeutet aber, dass mit dem aktuellen Anstieg lediglich eine Tendenz anhält, die bereits im Vorjahr eingesetzt hatte und die, so unsere Beobachtung, oft aus der Illegalisierung nach einem gescheiterten oder als aussichtslos angesehenen Anerkennungsverfahren resultiert.

Aufschlussreich an der oben erwähnten Pressemeldung ist der Hinweis auf die unterschiedlichen Zählmethoden. Während die NGOs von der Anzahl der verteilten Mahlzeiten, Bedarfsermittlungen für weitere Hilfeleistungen sowie täglicher Präsens vor Ort ausgehen, beziehen sich die Angaben von offizieller Seite unter anderem auf Luftaufnahmen, die von einem Grenzpolizeiflugzeug gefertigt werden. Bisher waren uns von offizieller Seite noch keine Hinweise auf Überwachungen der Camps aus der Luft bekannt. Aus polizeitaktischer Sicht scheinen diese jedoch schlüssig. Offen ist hier, seit wann, in welchem Umfang und mit welcher Zielsetzung diese erfolgt und wie genau sie mit anderen Formen der Überwachung, etwa der Installation von Kameras an den Straßen in der Nähe des Jungle, verbunden ist.

Zu den aktuellen Lebensbedingungen berichtet InfoMigrants unter Berufung auf die Organisation Utopia 56, dass Versorgungsengpässe insbesondere bezüglich Schlafsäcken und Zelten befürchtet werden. In den vergangenen Jahre wurden diese regelmäßig nach Open-Air-Festivals gespendet, die aber in diesem Jahr wegen der Pandemie nicht stattfinden könnten. Refugee Youth Service, eine weitere lokale Initiative, gehe davon aus, dass sich unter den 1.200 Geflüchteten ca. 100 unbegleitete Minderjährige befänden.

Die hygienischen Zustände – insbesondere mit Blick auf die Pandemie – sind nach wie vor katastrophal. InfoMigrants zitiert hierzu Juliette Delaplace von Secours Catholique, der französischen Caritas: „Es gibt nur einen Punkt mit fließendem Wasser in der Zone des Dunes, während solche in einigen anderen Camps mehrere Kilometer entfernt sind. Müll sammelt sich an und wird nicht oft genug eingesammelt. Wir haben bemerkt, dass Ratten da sind. Der Staat finanziert maximal 250 mal Duschen pro Tag, was bei weitem nicht genug für 1.200 Menschen in Not ist.“

Laut InfoMigrants zeichnet die Präfektur auch hier ein anderes Bild. So seien zu Beginn der Pandemie „an vier Standorten Latrinen und frei zugängliche Wasserstellen“, darunter mobile Wasserbehälter, installiert worden. Es gäbe 43 Toiletten und 51 Wasserhähne. Duschen befänden sich in der Rue Saint-Omer, etwa eine Stunde Fußweg von der Zone des Dunes entfernt. Es gäbe jedoch zum Teil die Möglichkeit mit Bussen dorthin gebracht zu werden.

Wir dokumentieren im Folgenden eine längere Passage des Info-Migrant-Beitrags:

„Everything is organized to fight against forming attachments, to discourage migrants from settling, starting with these showers on the edge of the city,“ Delaplace explained. „But more generally, it’s the right to accommodation that is not applied at all in Calais. People are expelled every morning, they feel they are being badly treated and harassed by the police,“ she said. This includes police seizing tents, blankets and even personal papers during evacuations, said Delaplace. „Right now, volunteers at Secours Catholique have started sewing small cloth pockets so that they [die Migrant_innen] can keep their documents with them 24 hours a day. It’s not right that it should come to this!“

Outside the camps, the situation is just as tense, according to migrant rights associations that denounce harassment and discrimination on public transportation, with several video clips emerging to support these claims.

In recent weeks, many migrants reported that city buses were not stopping at bus stops near the camps and passed when black people or people of color were waiting for a bus. „Since then, the director of Calais Opal Bus, whom we met, assured us that the exiles would be allowed on buses. This is now the case, except that once inside, they are almost always taken out to be checked. It’s unbearable,“ said an outraged Delaplace.

The pressure is even greater for migrants whose asylum requests have been rejected and other undocumented migrants because an administrative detention center [gemeint ist das Haftzentrum in Coquelles bei Calais] has reopened after a closure during the lockdown. „It’s already full,“ said Siloé from Utopia 56 Calais, describing an explosive situation. „Last week, 34 people were sent to the administrative detention center in three days. This adds further pressure as the exiles are already being evacuated from their camps every day and the authorities are confiscating their belongings. The police are also adding more fences, especially around the ‚Big Jungle‘ [gemeint ist die 2015 entstandene und 2016 geräumte Zelt- und Hüttensiedlung, die aufgrund ihrer Größe heute so genannt wird], which results in restricted space and sometimes sparks turf wars between different exile communities.“

The prefecture, for its part, confirms that the pace of evacuations is intense: „Since Friday, April 3, the state has undertaken 24 successive operations to shelter the migrant population of Calais.“ The stated goal: „To take care, for humanitarian reasons, of a homeless population, whose presence in certain outlying areas of Calais also causes serious public health problems and breaches of public peace. It is also to stop the spread of COVID-19, to ensure the protection of all.“

According to the prefecture, 617 migrants have been „sheltered“ since the beginning of these operations in six centers in the department.

In addition, the prefecture says it is continuing its almost daily evacuations carried out under the authority of the public prosecutor of Boulogne-sur-Mer, a city 35 kilometers south of Calais. „The aim of these operations is to put an end to illegal occupations and to avoid the reconstitution of lawless areas and unhealthy camps that would soon become shantytowns. During these operations, all migrants who so wish can be sheltered in reception and situation assessment centers.“ Since these centers opened in August 2017, around 4,797 migrants from Calais have been taken care of after their evacuations. These figures do not satisfy migrant rights groups, who note that the overwhelming majority of migrants in Calais have England in their sights, and the daily dismantling and police pressure does not stem the flow of arrivals. „In Calais, we are clearly in the midst of ongoing human rights violations that have become normalized – and the local and national authorities continue to maintain the rotting situation with impunity,“ explained Delaplace.“