Der Tod von 39 Vietnamesen in einem Kühlcontainer letzten Herbst brachte einen meist verborgenen Teil der Transitmigration über den Ärmelkanal in den Fokus. Er hat eigene Infrastruktur, Netzwerke und Routen, und die Wege derer, die darauf unterwegs sind, überschneiden sich kaum mit den gängigen. Die jüngsten Festnahmen in Belgien, Frankreich und Deutschland werfen einen Blick darauf.
In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 2019 wurden im Waterglade Industrial Park in Grays, Essex, einem Gewerbegebiet auf halbem Weg zwischen Themse-Mündung und London, die Leichen von 39 vietnamesischen MigrantInnen entdeckt: acht Frauen und 31 Männer im Alter von 15 bis 44 Jahren, darunter zehn Minderjährige. Der Sauerstoffmangel war ihnen zum Verhängnis geworden, sehr wahrscheinlich auf der zehnstündigen Überfahrt aus dem belgischen Zeebrugge, wo ihr Container am Nachmittag des 22. Oktober auf einer Fracht-Fähre in Richtung des Themse-Hafens Purfleet in See ging.
Anfangs berichteten britische Medien, dass es sich bei den Opfern um ChinesInnen handelte. Erst nach einigen Tagen wurde bekannt, dass sie stattdessen aus Vietnam kamen. Was auffällig ist, denn wer sich am Ärmelkanal umsieht, trifft dort so gut wie nie auf VietnamesInnen. In mehr als zehn Jahren Dokumentation des dortigen Geschehens kann ich mich an genau eine Ausnahme erinnern: ein kleines Camp in der Nähe von Dunkerque, ca. 2009 oder 2010, deutlich auf Abstand von anderen Migranten, dessen eindrücklichstes Detail ein Becher mit bunten Zahnbürsten war, der ordentlich an der Innenseite eines Zelts hing.
Einige Wochen nach dem furchtbaren Tod der 39 Menschen, in Großbritannien hinlänglich bekannt als “Essex Lorry Deaths”, bestätigte sich bei Recherchen in Zeebrugge dieses Bild. Die Tankstelle an der Autobahn- Auffahrt in Sichtweite des Hafens ist ein wichtiger Ort in der transitmigrantischen Geographie Zeebrugges – und der sicherste, um mit LKW-Fahrern ins Gespräch zu kommen. Eine kurze Fragerunde vermittelt einen klaren Eindruck: alle hier haben mehr oder weniger regelmäßig mit Geflüchteten unterwegs nach UK zu tun. Vietnamesen allerdings hat noch niemand getroffen.
Die Razzien gegen ein vermeintliches Menschenschmuggel-Netzwerk Ende Mai enthüllen einige Details des spezifisch vietnamesischen Teils klandestiner Kanal-Überquerungen. Und sie stimmen überein mit unseren eigenen Recherchen im vergangenen Winter.
Am frühen Morgen des 26. Mai fanden in Belgien mehrere Hausdurchsuchungen statt, die im Zusammenhang mit den Essex- Ermittlungen standen. Diese Ermittlungen werden von einem sogenannten Joint Investigation Team (JIT) koordiniert, an dem Belgien, Irland, Frankreich, Großbritannien sowie die Behörden Eurojust und Europol beteiligt sind. Die belgische Staatsanwaltschaft gab danach bekannt, man habe elf Personen vietnamesischer und zwei marokkanischer Nationalinalität festgenommen. Weiterhin wurden, so eine Pressemitteilung von Eurojust, “fünf Opfer/ Migranten gefunden”, zu deren Nationalität oder weiterem Schicksal keine Angaben gemacht wurden. Auch eine Nachfrage bei der Pressestelle von Eurojust Anfang Juni bringt diesbezüglich keine neuen Erkenntnisse.
Der belgische Teil des Netzwerks richtet sich offenbar auf Organisation und Transport. Die Festgenommenen hätten MigrantInnen von Belgien aus in den Norden von Frankreich gebracht, berichtete die belgische Tageszeitung De Morgen. Von dort aus seien sie mit LKW weiter transportiert worden. Mehrere vietnamesische Personen aus Brüssel, ebenfalls unter Verdacht der Mitgliedschaft in dem vermeintlichen Netzwerk verhaftet, sollen in der Hauptstadt für Safe Houses verantwortlich gewesen sein. Konkret genannt wird die Teilgemeinde Anderlecht im Brüsseler Westen.
Weiter heißt es, monatelang habe das vermeintliche Netzwerk täglich Dutzende Personen transportiert. Als deren Herkunft wird “Asien, genauer Vietnam” genannt. In der Eurojust-Erklärung ist von “Flüchtlingen aus Asien, vor allem Vietnam” die Rede. Keine Angaben gibt es zur Frage, ob es daneben noch um weitere asiatische Herkunftsländer ging.
Auch dazu kann oder will Eurojust auf Nachfrage keine weiteren Informationen geben. Interessant ist dieser Aspekt, weil die Netzwerke, die VietnamesInnen nach UK bringen, in der Regel deutlich getrennt von denen anderen Nationalitäten operieren. Ab und an arbeiten sie allerdings mit Kurden zusammen, erklärte uns die belgische Staatsanwaltschaft letzten Winter.
Die in Belgien verhafteten Personen mussten bereits Ende Mai erstmals vor Gericht erscheinen. Ihnen drohen bis 15 Jahre Gefängnis und Strafsummen, die per Opfer zwischen 1000 und 150.000 Euro betragen können. Der nordirische Fahrer, der den Container abholte und wegen Totschlags angeklagt ist, hatte im April bereits gestanden.
Die meisten Razzien in Belgien fanden in Anderlecht sowie den beiden Brüsseler Gemeinden Schaarbeek und Sint-Jans-Molenbeek statt, dazu vier weitere in anderen Teilen der Hauptstadt und eine im Umland. Parallel gab es auch Durchsuchungen in Frankreich, genauer in der Hauptstadt-Region Ile-de-France. Dabei wurden ebenfalls 13 Personen festgenommen, von denen fünf nun des Menschenschmuggels und Bildung einer kriminellen Organisation verdächtigt werden.
Auf der Website des öffentlich- rechtlichen niederländischen TV- Sender NOS heißt es, pro Passagier hätte das vermeintliche Netzwerk 35.000 Euro kassiert. Diese Information deckt sich in etwa mit den Berichten der belgischen Staatsanwaltschaft, die uns im Dezember ein detailliertes Bild verschiedener Routen vermittelte: demnach zahlen vietnamesische Migranten, die auf dem Landweg über Russland nach West-Europa kommen und unterwegs arbeiten, pro Person 25.000 Euro.
Eine teurere Option enthalte einen Flug von China nach Paris, was 40.000 Euro koste. Allein der Transport von Brüssel nach England schlage mit 5.000 Euro zu Buche. Daneben gebe es auch eine noch relativ junge südliche Route: per Flugzeug von Vietnam nach Abu Dhabi und weiter nach Marokko oder Spanien, und von dort aus mit Bus, Zug, LKW, Auto oder – mit falschen Dokumenten – mit dem Flugzeug in Richtung Paris und Brüssel.
Auch in Deutschland gab es Ende Mai eine Festnahme, wie der Tagesspiegel berichtet: dabei soll es sich um den vermeintlichen Chef des Netzwerks handeln. Der Ort der Verhaftung wurde nicht genannt. Auf der NOS-Website wiederum ist zu vernehmen, dass der Mann den Spitznamen “der kahle Herzog” trage unf auf französisches Ersuchen festgenommen worden sei.
Deutlich wird einmal mehr, dass Belgien in diesem Geflecht eine zentrale Rolle einnimmt. Nicht nur, weil die fatale Überfahrt des besagten Kühlcontainers von Zeebrugge aus erfolgte, und sich mehrere der darin umgekommenen Personen zuvor in Belgien aufgehalten haben. Auch die hiesige Staatsanwaltschaft sieht das Land dank seiner geografischen Lage als logistisches Zentrum von Transitmigration, bzw Schmuggel von VietnamesInnen nach Großbritannien.
Schon 2016 deckte die belgische Polizei ein vietnamesisches Schmuggel-Netzwerk auf. Über ein safe house in Brüssel hatten seine fünf Mitglieder aus der Ukraine kommende vietnamesische MigrantInnen, manche noch minderjährig, nach England geschleust. Der Hauptverdächtige wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Nach dem Tod der 39 MigrantInnen in Grays intensivierten die belgischen Behörden ihr Zusammenarbeit mit Vietnam, aber auch Transit-Ländern wie Polen und der Ukraine. Untersucht wurde dabei auch, inwieweit Schmuggler in Belgien auf safe houses in Frankreich zurückgreifen.
“Klar ist: Die Vietnamesen sind keine Parkplatz-Leute. Sie haben eigene Orte, wo sie in Lkw steigen, oft direkt hinter der französischen Grenze. Das kann irgendeine Sackgasse sein oder eine Wiese”, sagte uns ein Mitglied der Föderalen Staatsanwaltschaft Brüssel, das wegen der laufenden Essex- Ermittlungen anonym bleiben will. “Meist gelingt es ihnen unter unserem Radar zu bleiben. Aber seit einigen Jahren treffen wir ab und zu eine Gruppe in Containern oder in Lkw an, immer etwa zehn bis 15 Personen.” Von den üblichen, offensichtlichen Orten wie dem Nordbahnhof oder dem nahen Maximilianpark in der Hauptstadt hielten VietnamesInnen sich fern.
Es ist freilich nicht so, dass sie unterwegs nach England keinerlei Spuren hinterlassen. Nur ist diese Verbindung eben nicht immer einfach oder eindeutig zu beweisen. In Belgien etwa steht der Anstieg der billigen Nagel-Studios sehr wahrscheinlich in direktem Zusammenhang mit dem stetigen Fluss in Richtung UK. Auch aus niederländischen oder deutschen Städten sind diese Studios bekannt. Nicht jedes ist automatisch ein Ort der Ausbeutung. Manchmal aber sind die Zeichen recht deutlich: so wie in der Galerie du Centre, wenige Minuten nur von der Brüsseler Grand Place. Eine einfache Shopping Mall mit vor allem lokaler Kundschaft und auffälliger Mono-Kultur: Die große Mehrheit der Geschäfte sind Nagel-Salons, deren Preislisten in den Schaufenstern allerlei Behandlungen zwischen zehn und 30 Euro anbieten.
Bei einem Besuch zu Beginn des Jahres, also vor der Corona-Krise, zählte die Galerie etwa zwanzig solcher Etablissements. Zwei davon, „Vietnam-Nails“ und „Saigon Nails“, trugen eindeutige Referenzen im Namen. In allen zeigte sich das gleiche Bild: junge asiatische Frauen und Männer beugten sich an kleinen Tischchen im Schein greller Lampen über die Hände der Kundschaft und bearbeiteten sie mit Feilen und anderem Werkzeug. Die meisten, doch nicht alle trugen Mundschutz. Der aggresive Geruch der verwendeten Chemikalien hing selbst draußen auf den Gängen an einem Wintertag unangenehm schwer in der Luft.
Wie ein Mitarbeiter des Programm-Kinos, eines der wenigen anderen Unternehmen in der Mall, erzählte, habe sich die Anzahl der Nagelstudios mindestens verdoppelt, seit er vor sechs Jahren hier zu arbeiten begann. Alle hätten den gleichen “asiatischen Besitzer”, der ein oder zwei Mal im Jahr nach Polizeikontrollen Strafen für einige nicht ordnungsgemäß angestellte Arbeiter zahle und danach unbehelligt weitermache. “Von der Polizei hörte ich, dass die Pässe der Angestellten einbehalten werden. Es gab schon welche, die haben in den Garagen im Untergeschoß gewohnt. Auf den Bewachungskameras habe ich gesehen, wie Leute mit Gepäck dort unten ankommen, die zehn Minuten später in einem Nagel-Salon arbeiten.”
Auch in den Niederlanden beschäftigt das Schicksal junger Vietnamesen die Justiz. Mehrfach wurden in den vergangenen Jahren Fälle blinder Passagiere bekannt, die beim Hafen Hoek van Holland nahe Rotterdam in Containern gefunden wurden. 21 waren es im August 2018, 15 im Juli 2019, jeweils in einem Kühl-Lkw, sechs im Mai 2019. Mirjam Blom, Menschenschmuggel-Expertin der Staatsanwaltschaft in Rotterdam, bestätigte auf Anfrage die steigende Tendenz. “2016 betraf es nur zwei Fälle, 2019 waren es acht.”
Wie viele Vietnamesen von Hoek van Holland die Überfahrt machen, darüber hat sie keine Zahlen. “Wenn Vietnamesen es nach England schaffen, verschwinden sie oft in der Illegalität.” Auch in strafrechtlichen Untersuchungen, schreibt Blom per Mail, werde oft nicht deutlich, wo die Vietnamesen in die Lkw gelangt seien und welche Route sie zuvor genommen hatten. “Oft sehen wir aber, dass es Verbindungen mit Belgien und Frankreich gibt.”
Die jüngsten Festnahmen geben vor diesem Hintergrund einen seltenen, wenn auch nicht allzu weit reichenden Einblick in die abgeschottete Welt vietnamesischer Transitmigration / Menschehnschmuggel über den Kanal. Letztere Bezeichnung ist hier nicht zufällig gewählt, denn die Übergänge sind fließend und die Grenzen zwischen der logistischen Ermöglichung dieser klandestiner Reisen und organisierter Ausbeutung unscharf. Als vorläufiges Fazit bleibt allerdings, dass im Fall vieler VietnamesInnen diese Grenze eindeutig überschritten wird – wovon schon die internationale Dimension des vermeintlichen Netzwerks und die gehandelten Beträge zeugen. Zusätzlich beklemmend ist die Tatsache, dass gerade durch den abgeschotteten Charakter jene, die auf diesen Routen unterwegs sind, von ihren Agenten oder Schmugglern noch extremer abhängig sind.