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Calais

Räumung des Camps Old Lidl (2)

Nach der Räumung des Camps Old Lidl am 1. Juni 2023 erklärte die Präfektur, knapp 300 Bewohner_innen hätten sich freiwillig in teils weit entfernte Aufnahmezentren bringen lassen. Die Darstellung der Behörde erweckt den Eindruck, man habe den Exilierten lediglich „Vorschläge“ gemacht, die bereitwillig angenommen worden seien. Als die NGO Human Rights Observers (HRO) widersprach, beharrte die Behörde auf der behaupteten Freiwilligkeit. Die Menschenrechtsbeobachter_innen legten nun Video- und Fotomaterial vor, das belegt: Der Transport in die Aufnahmezentren erfolgte nicht freiwillig. Vielmehr stiegen die Exilierten „unter strenger Überwachung durch die Ordnungskräfte“ und angesichts einer möglichen Festnahme durch die anwesende Grenzpolizei in die Busse.

Umzingelung des Camps und Erklärung der Präfektur über die Freiwilligkeit der Maßnahme. (Quelle: Human Rights Observers / Twitter)

HRO weist darauf hin, dass Maßnahmen zur Unterbringung nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts in Lille vom 7. März 2019 „nur mit der ausdrücklichen Zustimmung“ der betroffenen Personen und „ohne Zwang“ erfolgen dürfen. Die Aufnahmen der Räumungsoperation zeigen jedoch, dass das Camp von zwei Kordons aus CRS-Kräften umzingelt war und Ausgänge blockiert wurden, sodass die Exilierten das Gelände nicht verlassen konnten. Ihnen blieb lediglich der Weg zu den Bussen. Man sei gespannt, so HRO, welche Beweise die Präfektur dafür vorlegen werde, dass die knapp 300 Geräumten ihre individuelle Zustimmung zur Evakuierung gegeben hätten.

Zweiter Kordon und einer der Busse während der Räumung. (Foto. Human Rights Observers).

„Zahlreiche Zeugenaussagen von Exilanten berichten von Zwang, in diese Busse mit unbekanntem Ziel einzusteigen,“ so HRO. Exilierte klagten u.a., dass sie persönliche Sachen wie etwa Papiere nicht holen konnten, bevor sie zu den Bussen eskortiert wurden.

Chats mit Exilierten während der Räumung des Old Lidl am 1. Juni 2023. (Quelle: Human Rights Observers / Twitter)

HRO konnte beobachten, dass einige Bewohner_innen des Old Lidl inzwischen wieder nach Calais zurückgekommen sind – ein weiterer Hinweis auf die Unfreiwilligkeit der Maßnahme. Dabei stellte insbesondere „die Beschlagnahme und/oder Zerstörung von Zelten, die den einzigen Schutz für die Exilierten darstellen“, einen indirekten Zwang dar, der den Betroffenen keine Wahl gelassen habe, als „diese vorübergehenden Unterbringungsmöglichkeiten zu akzeptieren.“

Beschlagnahmte Zelte während der Räumung des Old Lidl. (Foto: Human Rights Observers)

HRO bestreitet nicht, dass die Präfektur fünf Dolmetscher eingesetzt habe, um die Exilierten zu informieren. Allerdings fragt die Menschenrechtsorganisation zu Recht, wie auf diese Weise über 300 Personen in verschiedenen Sprachen und Dialekten angemessen hätten informiert werden können. Auch hätte die Information der Betroffenen vor der Räumung und nicht während ihrer Durchrühung erfolgen müssen.

Die Räumung des Old Lidl widersprach, so HRO, den Verfahrensprotokollen, die der Unterhändler der französischen Regierung während eines 37-tägigen Hungerstreiks für die Rechte der Geflüchteten im Herbst 2021 zugesichert hatte (siehe hier). Diese Protokolle waren damals ein minimales Zugeständnis, das u.a. eine obligatorische Information im Vorfeld von Räumungen und ein Verfahren zur Rückgabe der beschlagnahmten Besitztümer vorsah. Diese Verfahren wurden von zivilgesellschaftlichen Organisationen von vornherein als unzureichend kritisiert. HRO macht deutlich, dass sie bei der aktuellen Räumung des Old Lidl teils nicht einmal angewandt wurden (Vorab-Information), teils durch fehlende Information und unzureichende Umsetzung ins Leere laufen (Rückgaben).

Für HRO fügt sich die Räumung des Old Lidl in die vielfach beschriebene Zermürbungstaktik der Behörden ein. „Die Personen, die am […] 1.6.2023 geräumt wurden, erleben einen rasanten Rhythmus von Räumungen, der sie sowohl psychisch als auch physisch erschöpft und ihr Leben in Gefahr bringt“.