(Mit einem Update vom 31. März 2023) Wenige Wochen, nachdem die Londoner Regierung eines der restriktivsten Migrationsgesetze Europas auf den Weg gebracht hat (siehe hier), erwarten britische Medien noch eine weitere Verschärfung: Offenbar ist geplant, Asylsuchende nicht mehr, wie bisler üblich, in Hotels unterzubringen, sondern auf stillgelegten Fähren und auf Militärstützpunkten. Die Verschärfung soll sowohl für Menschen gelten, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien übersetzen, als auch für solche, die bereits ein Anerkennungsverfahren durchlaufen.
Autor: tm
In den ersten Novembertagen des Jahres 2021 starben an der nordfranzösischen Küste mehrere Exilierte (siehe hier). Ihre Todesfälle ereigneten sich unabhängig voneinander teils auf See, teils an Land. In Dunkerque wurde einer dieser Fälle nun vor Gericht verhandelt. Angeklagt war ein kurdischer Mann aus dem Iran, dem fahrlässige Tötung, Beihilfe zur Überfahrt und Gefährdung anderer Personen vorgeworfen wurde. Der Prozess endete mit einem Schuldspruch, zeigte jedoch auch, dass der Angeklagte nicht zu den Profiteuren der gescheiterten Grenzpassage gehörte.
In der beginnenden Woche wird der britische Premierminister Rishi Sunak zunächst seine Pläne zur Verschärfung des Asylrechts darlegen und wenige Tage später mit dem französischen Präsidenten Macron zu einem Regierungsgipfel zusammenkommen. Voraussichtlich wird es auf eine Gesetzesinitiative zur Deportation aller Bootsmigrant_innen nach Ruanda oder in ein anderes Drittland hinauslaufen, die u.a. durch die Festsetzung der betroffenen Menschen in lagerähnlichen Einrichtungen flankiert sein wird. Ob es Sunak außerdem gelingt, Frankreich oder die EU zu einem seit Jahren angestrebten Rücknahmeankommen zu bewegen, wird sich zeigen. Was jedoch jetzt bereits klar ist: Ungeachtet aller auf Abschreckung zielenden Kampagnen der vergangenen Monate und Jahre ist die Zahl der Bootspassagen in diesem Winter weiter angestiegen. Wie die BBC unter Berufung auf das Innenministerium mitteilt, erreichten seit Jahresbeginn 2.950 Menschen in small boats britisches Hoheitsgebiet. Die Marke von 3.000 Passagier_innen war im Jahr 2022 erst in der zweiten Märzhälfte und im Jahr 2021 im Mai erreicht worden (siehe hier und hier).
Um Geflüchtete aus der Innenstadt von Calais zu verdrängen, ließ die Stadtverwaltung im vergangenen Jahr rund 600 schwere Steine aufschütten und in einer bestimmten Formation anordnen. So entstand eine bizarre Steinlandschaft beiderseits der historischen Quais, eine radikale antimigrantische Zwecklandschaft im Herzen der Stadt (siehe hier und hier). Am 1. März 2023 wurde die Anlage weiter ausgebaut. Ihr Zweck besteht darin, das Aufstellen von Zelten unmöglich zu machen und zivilgesellschaftliche Versorgungsinfrastrukturen zu blockieren.

Migration, und insbesondere die undokumentierte Querung des Ärmelkanals, ist zu einem Agitationsfeld der britischen Rechten geworden. Während die Londoner Regierung eine alarmistisch-disruptive Rhetorik benutzt, wurden im Februar 2023 Hotels, in denen Geflüchtete untergebracht sind, zum Ziel teils gewalttätiger Straßenproteste. In Kürze wird die Rishi Sunak den Entwurf eines Migrationsrechts vorstellen, das zu den restriktivsten Europas gehören dürfte. In dieser Situation hat der Thinktank British Future im Februar einen Gegenentwurf vorgelegt, der u.a. humanitäre Visa für eine legale Einreise nach Großbritannien vorsieht. Wäre der Vorschlag Realität, so hätte ein Teil der fast 46.000 Channel migrants des Jahres 2022 den Ärmelkanal auf einer Fähre statt in einem Schlauchboot überqueren dürfen. Dennoch stellt der Vorschlag keine Abkehr von der repressiven Grenzpolitik der vergangenen Jahrzehnte dar. Er schreibt sie vielmehr unter realistischeren Bedingungen fort und könnte, würde er umgesetzt, eine riskantere Situation für diejenigen schaffen, die nicht von einem solchen Visum profitieren. Spielen wir den Vorschlag doch einmal durch.
Ein Camp im Chlornebel
Über ein Sicherheitsdfizit im Zentrum der sekuritisierten Grenze

Am späten Nachmittag des 20. Februar 2023 zog ein Nebel über das Gelände des Jungle von Loon-Plage und löste bei zahlreichen Geflüchteten gesundheitliche Beschwerden aus. Der Nebel war bei einem Industrieanfall freigesetzt gesetzt worden und erwies sich im Nachhinein nicht als lebensbedrohlich. Aber was wäre gewesen, wenn es sich um ein aggressiveres Gemisch gehandelt hätte? In dem Camp fehlten grundlegende Voraussetzungen für eine angemessene und schnelle (Selbst-) Hilfe, und zwar infolge der antimigrantischen Routinen der Behörden. Der Zwischenfall in Loon-Plage wirft daher ein Schlaglicht auf ein sonst wenig beachtetes Risiko dieser hochgradig präkarisierten Lebensorte.
Am frühen Morgen des 14. Februar 2023 wurde ein Mann aus dem Irak in einem Camp bei Loon-Plage westlich von Dunkerque erschossen. Über das Opfer, die Tat und ihre Hintergründe ist bislang nur wenig bekannt. Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass in dem als Jungle von Loon-Plage bekannten Camp Menschen durch Schusswaffen verletzt und auch getötet wurden. Neben den unfassbar elenden Lebensbedingungen sind zirkulierende Waffen, aber auch gewaltsam ausgetragene Konflikte und Machtdemonstrationen rund um das Geschäft mit Schleusungen, seit Langem ein Problem.

Wenn Schlauchboote von der nordfranzösischen Küste ablegen, ist dies für die französische Polizei und Gendarmerie die letzte Gelegenheit, um eine Bootspassage abzubrechen. Hierbei kam es in der Vergangenheit wiederholt zu Gewalt, die, weil sie meist bei Nacht an menschenleeren Strandabschnitten ausgeübt wird, selten dokumentiert wird (siehe hier, hier und hier). Über einen aktuellen Fall, bei dem Polizist_innen ein Boot mit CS-Gas beschossen, berichtet nun Utopia 56.
Bei der bislang schwersten Havarie eines Schlauchboots im Ärmelkanal starben am 24. November 2021 insgesamt 31 Geflüchtete, vier von ihnen wurden nie gefunden. Flankierend zur strafrechtlichen Aufarbeitung, fordern drei Familien von Opfern nun eine Entschädigung vom französischen Staat. Sie begünden dies mit der Untätigkeit der für die Seenotrettung zuständigen Institutionen. Unterstützt wird die Forderung durch die zivilgesellschaftlichen Organisationen Utopia 56 und Ligue des droits de l’homme (Liga für Menschenrechte).
Human Rights Observers dokumentieren einen Höchstwert von über 1.700 Räumungen im Jahr 2022

Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Räumungen informeller Lebensorte von Geflüchteten auf einen Höchstwert. Es waren über 1.700 Fälle, davon 96,5 % in Calais und die übrigen in der Umgebung von Dunkerque. Auch die Zahl der beschlagnahmten oder zerstörten Subsistenzgüter und persönlichen Sachen bleibt hoch. Die französische Grenzregion erweist sich damit einmal mehr ein Raum, in dem rechtstaatliche Normen im Vollzug einer restriktiven grenzpolitischen Agenda gebeugt werden. Dies verdeutlicht auch ein Vergleich der nordfranzösischen Grenzregion mit dem übrigen Frankreich.