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Channel crossings & UK

Small Boats Operational Command

Dimensionen der Post-Brexit-Grenzpolitik: Nach dem Ende der Operation Isotrope

Zwei Jahre nach dem Vollzug des Brexit durchläuft die britische Grenzpolitik eine vielschichtige Transformation, deren Dimensionen wir in einer unregelmäßigen Serie von Beiträgen ausleuchten (siehe hier). Wir beschäftigen uns nun mit dem Small Boats Operational Command, einer am 31. Januar 2023 eingerichteten Behörde zur Bekämpfung der Bootspassagen des Ärmelkanals. Damit endete die Operation Isotrope, mit der die Grenzpolitik im April 2022 unter eine militärische Leitung gestellt worden war. Allerdings bedeutet die Rückübertragung der Befugnisse auf eine zivile Einrichtung keine Demilitarisierung oder gar Demokratisierung des Grenzregimes. Vielmehr verstärkt das Small Boats Operational Command die Verschmelzung militärischer und ziviler Strukturen zu einem hochorganisierten und restriktiven Grenzregime.

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Calais

Eine feindlichere Umwelt

Antimigrantische Raumpolitik in Calais

Calaiser Steinlandschaft mit Blick auf das Rathaus, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Hunderte Exilierte leben obdachlos in der Innenstadt von Calais. Um ihnen die Möglichkeit zu nehmen, Zelte aufzustellen, ließ die Stadtverwaltung im Spätsommer 2022 weite Flächen mit Steinen bedecken. Der Turnus der routinemäßigen Räumungen wurde für diesen Teil der Stadt von zweitäglich auf täglich beschleunigt, sodass auch die Zahl der Räumungen im Jahr 2022 explodierte. Mit den Steinenflächen ist nun im Zentrum der Stadt eine Architektur der Unwirtlichkeit sichtbar geworden, die bislang vor allem in den Randbezirken angewandt wird. Die Calaiser Steinparks lassen sich zugleich als Teil einer zynischen Stadterneuerung deuten, die einerseits eine radikal antimigrantische Agenda umsetzt, andererseits aber die Migration kapitalisiert und mit einer Neuerfindung Calais‘ als touristische Destination einhergeht. Vor diesem Hintergrund blicken wir zurück auf einen Trend, der im Jahr 2022 besonders sichtbar wurde.

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Channel crossings & UK Dunkerque & Grande-Synthe

Prozess um tödliche Havarie im Oktober 2020

Am 27. Oktober 2020 ereignete sich die bis dahin schlimmste Havarie auf der Kanalroute. Damals ertranken im Seegebiet vor Loon-Plage bei Dunkerque sieben Menschen, unter ihnen eine fünfköpfige Familie mit ihren drei Kindern; der Leichnam des jüngsten Kindes, das 15 Monate alt war, wurde erst Monate später an der norwegischen Küste angespült (siehe hier, hier und hier). Am 20. Januar 2023 fand in Dunkerque nun der Strafprozess gegen drei Schleuser und einen Geflüchteten statt, der das Boot gesteuert haben soll. Das Gericht sprach Haftstrafen zwischen zwei und neun Jahren aus.

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Channel crossings & UK

Nichtrettung an der Seegrenze

Dank der französische Zollgewerkschaft Solidaires Douanes Gardes-Côtes wurde ein Vorfall öffentlich, der sich am 2. Januar 2023 an der Seegrenze inmitten des Ärmelkanals ereignet hat: Ein Schlauchboot mit 38 Geflüchteten erreichte britisches Hoheitsgebiet und geriet in Seenot. Die britische Küstenwache sicherte einen Rettungseinsatz zu, der jedoch nicht erfolgte. Vielmehr trieb das Boot in französische Gewässer zurück und wurde dort von der Besatzung eines Zollschiffs gerettet. Die Gewerkschaft der Zöllner_innen wirft der britischen Seite vor, die Geflüchteten in der Erwartung, dass sie über die Seegrenze zurücktreiben würden, sich selbst überlassen und damit ihr Leben aufs Spiel gesetzt zu haben.

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Allgemein Channel crossings & UK

Dimensionen der Post-Brexit-Grenzpolitik

Calais, August 2020. (Foto: T. Müller)

Die britische Politik gegenüber den small boats im Ärmelkanal durchläuft eine Veränderung. Diese vollzieht sich auf mehreren Handlungsebenen und weist zwei scheinbar entgegengesetzte Enwicklungslinien auf: Während einerseits neue multilaterale Formate unter Einbeziehung Deutschlands entstehen, tritt andererseits ein Primat des Nationalen hervor, das die Vielzahl einzelner Praktiken und Vorhaben ideologisch überwölbt. Die Post-Brexit-Grenzpolitik scheint sich in ihrer Radikalität den Grenzpolitiken von Staaten wie Ungarn, Italien oder Polen anzunähern. Dabei inszenieren sich britische Konservative mit eigenständigen Ideen als Avantgarde einer neuen internationalen Flüchtlingspolitik. Ob dies gelingen kann, ist alles andere als ausgemacht. In einer losen Folge von Beiträgen werden wir an dieser Stelle einige Dimensionen dieser Post-Brexit-Grenzpolitik ausleuchten. Wir beginnen mit einen Überblick.

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Calais

Ein weiterer Suizid in Calais

Erneut ist ein Geflüchteter in Calais gestorben. Er wurde am 3. Januar 2023 auf einem Bahngleis im Süden der Stadt von einem Güterzug erfasst. Wie die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56 mitteilt, hat der Mann sich „vor den Augen von Freiwilligen der Hilfsorganisationen und seinen Begleitern vor einen Zug geworfen.“ Auch die lokale Zeitung La Voix du Nord spricht von Suizid. Über die Identität des Opfers ist bislang lediglich bekannt, dass der Mann aus dem Sudan gekommen und etwa dreißig bis vierzig Jahre alt sein soll.

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Channel crossings & UK

Über 45.000 Bootspassagen im Jahr 2022

Im vergangenen Jahr überquerten 45.670 Menschen den Ärmelkanal auf riskante Weise per Schlauchboot. [Update: Am 2. Januar wurde die Zahl konkretisiert auf 45.756 Personen.] Dies waren so viele wie noch nie, seitdem im Herbst 2018 zum ersten Mal einige hundert Geflüchtete per Boot übergesetzt und damit eine neue maritime Migrationsrote in Europa erschlossen hatten. Der abermalige Anstieg der Passagen fällt in eine Zeit, in der sich die nach rechts gerückte britische Regierung als Promotor einer neuen inernationalen Migrationspolitik inszeniert, die in ihrer Radikalität inzwischen ohne weiteres mit dem Italien Melonis oder dem Ungarn Orbans verglichen werden kann.

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Allgemein

Opfer der Grenzpolitik: Die Todesfälle im Jahr 2022

Wandschrift in Calais, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Seit 1999 starben im britisch-kontinentaleuropäischen Grenzraum mehr als 360 Menschen. Sie alle sind direkt oder indirekt Opfer einer Migrationspolitik, die eine sichere und legale Passage der Grenze für sie unmöglich gemacht hat. Keiner dieser Menschen hätte in einer anderen politischen Konstellation sterben müssen. Zivilgesellschaftliche und politische Initiativen sowie das Missing Migrants Projekt der IOM dokumentieren das Geschehen seit Jahren. Auch wir haben über alle Fälle, die uns bekannt geworden sind, berichtet. Fügt man diese Informationen zusammen, so zeigt sich, dass 2022 mindestens neunzehn Migranten ums Leben kamen (die männliche Form trifft zu, denn es waren keine Frauen unter den dokumentierten Fällen). Sie starben in unterschiedlichen Situationen teils auf Land und teils auf See, teils bei versuchten Grenzpassagen, teils durch Suizid oder durch Gewalt, teils im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen in einem informellen Camp oder in einer offiziellen Einrichtung. Da mehrere Menschen nach Havarien vermisst werden, muss von weiteren Todesfällen ausgegangen werden.

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Channel crossings & UK

Gemeinsame Erklärung zur tödlichen Havarie vom 14. Dezember 2022

Eine Woche nach der tödlichen Havarie im Ärmelkanal (siehe hier und hier) veröffentlichen zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist_innen aus Frankreich, Großbritannien und Belgien ein gemeinsames Statement zur Lage der Geflüchteten auf der Kanalroute. Sie stellen den Tod der vier Menschen in den Kontext der hostile environment-Politik beiderseits des Ärmelkanals, wenden sich gegen die aktuellen Verschärfungen der Migrationspolitik und plädieren für Bewegungsfreiheit. Im Folgenden dokumentieren wir den auf der Website des Joint Council for the Welfare of Immigrants veröffentlichten Text:

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Channel crossings & UK

Vorläufige Rekonstruktion einer tödliche Nacht

Trauerkundgebung in Calais für die Opfer der Havarie vom 14. Dezember 2022. Auf dem Banner sind die Grenztoten der vergangenen beiden Jahrzehnte benannt. (Foto: Utopia 56)

In den Nachtstunden des 14. Dezember 2022 havarierte im Ärmelkanal ein Schlauchboot. Vier Geflüchtete verloren ihr Leben (siehe hier). Nach der Havarie veröffentlichten sowohl zivilgesellschaftliche Organisationen, als auch die zuständige französische Seepräfektur, genauere Informationen über das nächtliche Geschehen auf See. Ein Abgleich dieser Daten wirft die Frage nach operativen bzw. institutionellen Defiziten insbesondere der französischen Leitstelle auf. Außerdem wurde bekannt, dass wiederholte Notrufe eines anderen Bootes in derselben Nacht ins Leere liefen.