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Dunkerque & Grande-Synthe

Camps und Räumungen in Loon-Plage

Nach der Räumung des Camps von Loon-Plage, Mai 2023. (Foto: Th. Müller)

Im Dezember 2022 verlagerte sich das größte Camp von Exilierten im Raum Dunkerque, der Jungle von Loon-Plage, auf ein neues Areal. Das neue Camp wurde im Mai 2023 geräumt. Daraufhin besetzten die Exilierten einen sogenannten Empfangsplatz für fahrendes Volk, eine in Frankreich bestehende Infrastrutkur vor allem für Sinti*zze und Roma*nja. Wie lange das Camp dort bleiben wird, ist ungewiss. Hier ein Überblick über die Entwicklung des letzten halben Jahres und über die massiven Räumungen im Mai.

Die Verlagerung des Jungle von Loon-Plage

Im Jungle von Loon-Plage, November 2022. (Foto: Th. Müller)

Das im Mai geräumte Camp ging Ende 2022 aus dem Jungle von Loon-Plage hervor. Dieses Camp an der Kommunalgrenze von Dunkerque und Loon-Plage war längere Zeit das größte im Raum Dunkerque (siehe hier). Es erstreckte sich über mehrere hundert Meter auf einem Wald- und Brachgebiet entlang eines Bahngleises und einer Wasserstraße, die zur weißläufigen Infrastruktur des Hafens von Dunkerque gehört. Das Camp war nur auf einem einzigen Weg mit Fahrzeugen zu erreichen. Dieser Zugang wurde von den Behörden mit einer Betonsperre blockiert, was u.a. die Versorgung mit Trinkwasser, das von zivilgesellschaftlichen Akteuren in Form von Tanks bereitgestellt wurde, erschwerte.

Im Dezember wurde das Gelände geräumt und weitere Betonsperren errichtet. Dies bewirkte eine Verlagerung des Camps auf ein etwas südlich gelegenes Terrain. Auf Veranlassung des Port de Dunkirk verlagerte die NGO Roots, die sich für nachhaltige und umweltbewusste Dienstleistungen für Exilierte einsetzt, einen Trinkwasserbehälter aus dem bisherigen Jungle dorthin, um zu vermeiden, dass der Behälter überhaupt nicht mehr genutzt werden könne. Die Blockade der Zugänge zum alten Jungle durch Betonsperren machte es den zivilgesellschaftlichen Organisationen unmöglich, die Menschen dort im Fall einer Wiederbesiedlung mit Trinkwasser zu versorgen – ein elementares Menschenrecht (ein ausführlicher Bericht hier).

Den Menschen blieb somit keine andere Wahl, als noch im Dezember ihren Lebensort in Richtung des deplatzierten Wasserbehälters zu orientieren und dort ein neues Camp zu errichten. Dieses neue Camp befand sich auf einem Brachgelände unweit der nördlichen Ausläufer des geräumten Jungle. Es grenzte an eine Bahnstrecke und war von der Route de Mardyck, nach der es in der Medienberichterstattung meist benannt wurde, durch ein Tor in einem Metallzaun erreichbar.

Das geräumte Camp an der Route de Mardyck, Mai 2023 (Foto: Th. Müller)

Die (erneute) Räumung

Dieses neuen Camps wurde am 4. Mai 2023 geräumt. Die Räumung unterschied sich in mehrerer Hinsicht von bisherigen Zwangsräumungsaktionen. So wurden die zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort im Vorfeld über eine anstehende, größere Räumung informiert und darauf hingewiesen, dass es den Menschen danach nicht erlaubt sein wird, an diesen Ort zurückzukehren. Stattdessen wurde eine Ausweichzone vorgegeben: ein sumpfiges Gelände, in dem die Menschen geduldet werden würden.

Am Morgen des 4. Mai trafen dann gegen 7 Uhr zwanzig Fahrzeuge der CRS und Gendarmerie im Camp ein, gefolgt von anderen schweren Fahrzeugen. Zum Zeitpunkt der Zwangsräumung lebten ca. 300 Menschen an dem Ort, darunter mehr als 50 Familien und elf alleinreisende Minderjährige; diese waren von der Organisation Utopia56 in den Tagen vor der Räumung identifiziert worden.

Ihnen gegenüber stand ein verhältnismäßig großes Aufgebot von ca. 200 Polizist*innen, die einen Perimeter (Sperrzone) um das Camp errichten und die Eingänge blockieren. Nicht nur die eingesetzten personellen Ressourcen, sondern auch die Vorgehensweise unterschied sich von anderen Räumungen. So wurde nicht wie üblich Zone für Zone des Lebensortes evakuiert, sondern das gesamte Camp und auch naheliegende Straßen und Waldstücke, wo sich kleinere Ansiedlungen gebildet hatten. In letzteren kam es laut Berichten und Videomaterial von Utopia56 und Human Rights Observers zu einer regelrechten „Jagd auf Menschen“ durch die Grenzpolizei.

Wie aus einem Bericht von Human Rights Observers hervorgeht, wurden ingesamt mindestens fünf Müllcontainer mit persönlichem Besitz der Exilierten sowie mindestens 200 Zelte von der Reinigungsfirmung beschlagnahmt.

Die Heftigkeit und Vehemenz, mit der die Räumung vollzogen wurde, wird augenscheinlich, sobald man das ehemalige Gelände des Camps betritt. Wir hatten Gelegenheit, es in einem unbewachten Moment am zweiten Tag nach der Räumung zu untersuchen.

Überreste des geräumten Camps in Loon-Plage (Foto: M. Thiel)

Auf dem leeren Areal befanden sich mehrere große Anhäufungen von dem, was nur wenige Tage zuvor noch Menschen gehörte; alles war mit schwerem Gerät zusammengeschoben worden: deformierte Zeltstangen, grotesk verbogene Einkaufswagen und Bauzäune, Matratzen, Schlafsäcke, Spielzeug, Kleidung und Lebensmittel. Auch wurde eine Fläche umgepflügt. Ein Teil der gepflügten Fläche hatte als Zugang zu einer Distributionsstelle der zivilgesellschaftlichen Organisationen gedient, die somit endgültig unbenutzbar gemacht wurde.

Die Aktion wurde vom französischen Innenminister als mise à l’abri-Operation (dt. Unterbringung/Schutzoperation) dargestellt, stellt aber in Wirklichkeit eine Vertreibung und gezwungene Räumung da. So wurden laut Human Rights Observers mindestens 17 Personen, die sich weigerten, in die bereitgestellten Busse zu den „Aufnahme- und Lagebewertungszentren“ (CAES) zu steigen, von der Grenzpolizei festgenommen. Die Entscheidungsgewalt der Betroffenen scheint somit, anders als von den Behörden behauptet, nicht freiwillig gewesen zu sein.

Wie die Koordinatorin von Utopia56 im benachbarten Grande-Synthe berichtet, erhielt die Organisation schon während der Räumung Anrufe von Menschen mit der Frage, ob sie in die Busse einsteigen müssen: ein Indiz für fehlende Informationen seitens der Behörden, auch wenn diese durch anwesende Übersetzer*innen während der Räumung kommuniziert werden müssten.

Noch am gleichen Abend kehrten viele der Menschen, die zuvor mit Bussen abtransportiert worden waren, zurück nach Loon-Plage. So wurde die Organisation am regnerischen Abend der Zwangsräumung von ca. 100 Menschen kontaktiert, deren Habseligkeiten und Materialen während der Räumung entwendet wurden und die nun keine Unterbringungsmöglichkeiten hatten. Das Büro des Bürgermeisters in Dunkerque leitete Utopia56, die um Unterbringungsmöglichkeiten für die Personen bat, an die Unterpräfektur weiter, die wiederrum um einen erneuten Anruf am nächsten Morgen bat – die Menschen mussten die Nacht draußen ausharren. Obwohl die Operation vom Staat als Schutz- und Unterbringungsmaßnahme bezeichnet wurde, zielt auch diese Zwangsräumung darauf ab, Menschen geografisch von der Grenze zu distanzieren, und ist somit ein integraler Bestandteil der Nulltoleranzpolitik des britisch-französischen Grenzregimes.

Umgepflügtes Gelände des zuvor geräumten Lebensorts (Foto: M. Thiel)

Neues Camp

Am Morgen des 5. Mai Nach der erneuten, kleineren Räumung am Morgen des 5. Mai folgte ein weitere, jedoch kleinere Räumung. Sie betraf ca. 30 Personen, die sich auf dem tags zuvor geräumten Gelände niedergelassen hatten.

Gleichzeitig entstand ein neues Camp. Es befindet sich einige hundert Meter südlich des Ende 2022 geräumten Jungle an einem Seitenweg der Route de Port Fluvial, der an einem entlegenen Hafenbecken vorbeiführt. Es handelt sich eine für die Aufstellung von Wohnwagen vorgesehene Wiesenfläche, die als lokaler Empfangsplatz für fahrendes Volk für ausgewiesen ist. In Frankreich besteht ein Netz solcher Plätze, die insbesondere für Sinti*zze und Roma*nja vereitgestellt werden, die in den vergangenen Jahrzehnten ihrerseits von rassistischen bzw. antiziganistischen Kampagnen betroffen waren. Der Platz war zum Zeitpunkt der Besetzung ungenutzt. Die Frage einer möglichen Räumung war Anfang Juni ungeklärt; wir werden über den weiteren Verlauf berichten.

Das ursprünglich von der Präfektur zugewiesene „Ausweichgelände“ wurde nicht akzeptiert. Es war nicht für die Anzahl an Menschen ausgelegt und der nasse Untergrund macht ein längeres Verweilen unmöglich.