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Was geschah in Loon-Plage?

Inzwischen zeichnet sich ein etwas klareres Bild dessen ab, was am frühen Abend des 15. Juni im Jungle von Loon-Plage geschah. Die französischen Behörden gaben den Tod einer zweiten Person bekannt und halten nun offenbar einen versehentlich abgegeben Schuss sowie einen Suizid für möglich; die beiden Toten sind Kurden aus dem Irak. Für die Bewohner_innen des Jungle trat in den Tagen danach eine materielle Extremsituation ein: Rund tausend Menschen verloren zeitweise ihren einzigen Zugang zu sauberem Wasser.

Zunächst hatten französische Medien gemeldet, der am 15. Juni erschossene Mann sei afrikanischer Herkunft – ebenso wie die Opfer des Mordes und mehrerer Mordversuche, die am Vortag in einem anderen Bereich des Jungle verübt worden waren (siehe hier). Am 16. Juni veröffentlichte der irakisch-kurdische Sender Rudaw jedoch die Namen und Fotos zweier getöteter Kurden. Einer habe den anderen, mit dem er befreundet war, während eines Streits entwaffnen wollen. Dabei habe sich ein Schuss gelöst und den Freund getötet, woraufhin sich der Mann aus Verzweiflung erschossen habe. Der Bericht lässt erkennen, dass beide Männer zu einem Schleusernetzwerk gehörten (siehe hier).

Die französischen Behörden gehen nun offenbar von einem ähnlichen Szenario aus. Wie die Zeitung La voix du Nord am 20. Juni meldete, könnte es sich um „versehentliche Schüsse“ gehandelt haben, „auf die ein Suizid folgte“. Die ursprüngliche Annahme, dass es sich um eine „Abrechnung“ handeln könne, werde „von den Ermittlern heute nicht mehr favorisiert“.

Rückblickend heißt es, dass am Tatort ein irakischer Staatsangehöriger tot und ein anderer schwer verletzt aufgefunden wurden, beide hatten einen Schuss in den Kopf erlitten. Der Schwerverletzte wurde am 19. Juni im Krankenhaus von Lille für tot erklärt. Eine dritte Person, die ebenfalls irakischer Nationalität war, habe mit einer Schussverletzung fliehen können.

Gestützt auf die Autopsie und Aussagen von Zeug_innen ziehen die Behörden, so La voix du Nord, eine „versehentliche Erschießung“ während eines Streits in Betracht: „Einer hatte eine Pistole in der Hand. Ein Schuss aus einem Kaliber von 7,65 mm soll versehentlich auf die Stirn desjenigen abgegeben worden sein, der sofort tot war. Ein zweiter Schuss, ebenfalls aus Versehen, soll das Bein des Iraks getroffen haben, der daraufhin flüchtete. Als der Besitzer der Waffe seine Tat bemerkte, schoss er sich selbst in die Schläfe.“ Die Ermittlungen dauern an und es bleibt abzuwarten, ob sich dieser vermutete Hergang bestätigt.

In Bezug auf die Tat am Vortag, dem 14. Juni, ist weiter davon auszugehen, dass sie gegen sudanesische Geflüchtete gerichtet war. La voix du Nord spricht von rund hundert großkalibrigen Patronenhülsen, die am Tatort gefunden worden seien, und beschreibt die Tat als eine Exekution. Gegen die beiden inhaftierten Tatverdächtigen wurde am 17. Juni Anklage wegen Mordes bzw. Mordversuchs erhoben.

Wie gewaltvoll die Situation in den Camps bei Loon-Plage generell ist, zeigt momentan auch ein Strafprozess gegen mußtmaßliche Schleuser in Lille. Im Zentrum steht eine tödliche Havarie am 14. Dezember 2022, bei der vier Menschen starben (siehe hier), doch macht der Prozess vielfältige Ausprägungen physischer, psychischer und sexueller Gewalt sichtbar. Einer der Angeklagten wird in einem weiteren Strafverfahren beschuldigt, an einer Gruppenvergewaltigung teilgenommen zu haben, deren Opfer minderjährig war.

Unterdessen verschlechterte sich die humanitäre Situation in den Camps bei Loon-Plage, wo momentan nach Angaben der NGO Utopia 56 „mehr als 1000 Menschen“ leben, „darunter viele Frauen, einige sehr jung, und Kinder“. In den Tagen vor und nach den tödlichen Schüssen hätten die Behörden keine Unterbringungen hilfesuchender Personen aus dem Jungle durchgeführt. Bei einer groß angelegten Räumung am 18. Juni wurden Zelte und persönlicher Besitz zerstört. Wohl versehentlich beschädigten die eingesetzten Maschinen dabei die Waserleitungen zur einzigen Trinkwasserstelle. Zwar seien die Leitungen später repariert worden, doch habe ein Leck zu Kontaminationen geführt: „An einem der bisher heißesten Tage des Jahres hatten die Menschen keinen Zugang zu Trinkwasser – oder zumindest keine Garantie, dass es sicher zu trinken war“, so die NGO Charitable Roots.