Möglicherweise wird es die von Großbritannien gewünschte Änderung der Einsatzdoktrin nicht geben, die ein aktives Abfangen der Schlauchboote in französischen Küstengewässern legalisieren solle. Ein solche Änderung hatte sich im Umfeld des britisch-französischen Gipfels im Juli 2025 konkretisiert (siehe hier), scheint jedoch von Frankreich nicht mehr vorangetrieben zu werden. Dennoch steht die Befürchtung im Raum, eine etablierte und mitunter tödliche Einsatzpraxis im französischen Überseegebiet Mayotte könnte zum Vorbild für den Ärmelkanal werden.
Im Vorfeld des Gipfels hatte der damalige französische Innenminister Bruno Retailleau signalisiert lassen, das aktive Aufbringen von Schlauchbooten in einem 300 Meter breiten Streifen zu ermöglichen. Im Fokus standen sogenannte Taxiboote, die entlang der Küste gruppenweise Geflüchtete an Bord nehmen. Bereits auf See befindliche Boote zu stoppen, war nach den Einsatzregeln explizit nicht erlaubt und ist es auch heute nicht – aus gutem Grund, denn es erhöht das Risiko von Havarien und Todesfällen. Im Umfeld des Gipfels dokumentierten NGOs und Medien dennoch mehrere Situationen, in denen französische Ordnungskräfte voll besetzte Schlauchboote im küstennahen Gewässer aufschlitzten (siehe hier und hier). In einem weiteren Fall setzte ein Boot mit 55 Menschen die Überfahrt fort und erreichte britisches Hoheitsgebiet, obwohl es von der französischen Ordnungskräfte beschädigt worden war und Luft verloren hatte. „Boat slashing failed zu stop migrants“, titelte der Guardian (siehe hier).
Mitte September veröffentlichte das Investigativmedium Lighthouse Report gemeinsam mit Arte, Le Monde, Der Spiegel und The Times eine Reportage über das gewaltsame Vorgehen der Grenzpolizei an der Küste der französischen Insel Mayotte im Indischen Ozean. Die Journalist_innen beschrieben den Einsatz „tödliche Taktiken“, um das Anlanden von Geflüchteten von der benachbarten Komoren-Insel Anjouan zu verhindern. Sie wiesen nach, „dass die französische Polizei für den Tod oder das Verschwinden von mindestens 24 Menschen – darunter schwangere Frauen und Kinder – bei gewaltsamen Abfangaktionen auf See vor der Küste von Mayotte verantwortlich ist. Die Vorfälle erstrecken sich von 2007 bis Juli 2025.“
Aus zahlreichen Zeug_innenaussagen von Migrant_innen, aber auch von Angehörigen der Ordnungskräfte, konnten die Journalist_innen eine typische Vorgehensweise ableiten. Sie besteht darin, „dass die Polizei die Boote umkreist, um Wellen zu erzeugen, bis das Wasser die fragilen Schiffe überflutet, oder dass sie den Bug rammt, um sie zu destabilisieren.“ Plastisch schilderte ein „hochrangiger Gendarm“ das Vorgehen: „Wir fahren hinter dem Boot her, in sein Kielwasser, und dann verfolgen wir es […]. Sobald wir in ihrem Kielwasser sind, halten sie an, weil ihr Leben in Gefahr ist – aber wenn sie weiterfahren, sind wir gezwungen, sie zu rammen.“ Auch fanden sie heraus, dass die Beamt_innen häufig kaum für das Operieren auf See ausgebildet seien, was die Risiken erhöhe.
Die Situation zwischen den Komoren und Frankreich ist nicht identisch mit derjenigen zwischen Frankreich und Großbritannien, doch war (und ist) nicht auszuschließen, dass Einsatzroutinen von dort auf die Kanalküste übertragen werden. Eine mögliche neue Einsatzdoktrin für die Kanalküste soll die Möglichkeit vorsehen, „Migrantenboote einzukreisen, um sie zurückzudrängen oder mitten auf dem Meer zu stoppen“, so Lighthouse Reports unter Berufung auf einen hochrangigen Beamten. Bereits im Frühjahr 2024 warnte der damalige französische Staatssekretär für Meeresangelegenheiten, Hervé Berville, den Premierminster von Risiken derartiger Operationen einschließlich der Gefahr des massenhaften Ertrinkens.
Wie BBC nun berichtet, mehren sich die Anzeichen dafür, dass die französische Regierung inzwischen von ihren im Juli geäußerten Absichten zur Verschärfung der Einsatzdoktrin an der Kanalküste abrückt – möglicherweise infolge der jüngsten Regierungskrisen, des Wechsels des Innenministers und veränderter Prioritäten. Der Sender zitiert die französische Seepräfektur für den Ärmelkanal mit der Aussage, die neue Einsatzdoktrin gegen die Taxiboote sei noch in Prüfung. Eine weitere Quelle aus dem Kontext der französischen Seesicherheit sagte: „Das ist nur ein politischer Schachzug. Es ist viel Blabla.“ Im Sommer hatten britische und französische Quellen noch davon gesprochen, die Änderung der Einsatzregeln stehe unmittelbar bevor.
Ein Scheitern des aktiven Stoppens der Boote auf See ist also denkbar – und mit Blick auf die ohnehin hohe Zahl der Todesfälle auch wünschenwert. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein solches Vorgehen trotz populistischer Ankündigungen nicht umgesetzt wird: Im April 2022 scheiterte die britische Regierung nach politischen und rechtlichen Interventionen von NGOs und Gewerkschaften mit ihrem Plan, Schlauchboote in der Mitte des Ärmelkanals durch das künstliche Erzeugen von Wellen abzudrängen (siehe hier).