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Benelux & Deutschland

Waremme bei Lüttich – Transitort nach Großbritannien

Waremme ist eine Kleinstadt in der Wallonie. Folgt man der Europastrasse 40 von Lüttich (Liège) nach Brüssel, passiert man den gleichnamigen Autobahnrastplatz. Seit mehreren Jahren nutzen Geflüchtete ihn, um sich dort in einem Lastwagen nach Großbritannien zu verstecken. Die E 40 führt in ihrem weiteren Verlauf über Brüssel und Oostende zu den Fährhäfen von Dunkerque und Calais. Anders als viele der Raststätten auf dieser Strecke ist diejenige in Waremme noch nicht durch Zäune und Klingendraht gesichert.

Im Herbst 2019 entstand in einem Wäldchen in der Nähe der Sportanlagen von Waremme ein kleines Zeltcamp. Es ist das östlichste auf der Landkarte der seit den 2000er Jahren regelmäßig entstehenden Satelliten-Camps von Calais und Dunkerque, und es ist dasjenige, das von Deutschland her gesehen am nächsten liegt – eine knappe Fahrstunde von Aachen entfernt, etwa so weit wie von dort nach Köln oder Düsseldorf.

Anders als in Calais und Dunkerque, wurde das Camp in Warenne jedoch bis zur Corona-Krise nicht geräumt, es wurden keine Polizeiübergriffe bekannt, die Kommune verhielt sich zumindest gleichgültig und die Angelegenheit wurde medial nicht skandalisiert. Das Camp war nicht einmal derjenige Ort, an dem die meisten Migrant_innen on the move lebten. Denn es gab und gibt Alternativen.

Die Geschichte der Migrant_innen in Waremme ist Teil einer Suchbewegung nach einem noch gangbaren Migrationspfad, die sich mit dem sicherheitstechnischen Ausbau der Fährhäfen und der Verkehrsinfrastrukturen in Nordfrankreich immer weiter auch nach Belgien ausgedehnt hat.

Zunächst waren Migrant_innen abends von Brüssel her gekommen, um in Waremme ein Versteck in einem Lastwagen zu suchen. Seit 2017 blieben manche in Waremme. Als dort 2018 das Maison de la Laïcité (Haus des Laizismus) eröffnete und sich um die Versorgung der Geflüchteten kümmerte, schliefen viele in der Nähe des Hauses und erreichteten im September 2019 schließlich in kurzer Diszanz das Camp aus ungefähr einem Dutzend ausgemusterten Campingzelten.

Die Anzahl der oft noch jugendlichen Geflüchteten lag im Februar 2020 bei ungefähr 60, von denen etwa 80 % aus Eritrea, 15 % aus Äthiopien und die übrigen aus dem Sudan stammten. Der Anteil der Frauen war mit etwa 10 bis 15 Personen verhältnismäßig hoch. Bevor sie versuchten, nach Großbritannien zu gelangen, hatten viele dieser Leute in Italien, den Niederlanden, der Schweiz, Norwegen, Frankreich und in letzter Zeit häufig auch in Deutschland gelebt.

Ihre Migrationsversuche scheiterten meist im Fährhafen von Calais. Üblicherweise schlugen sich die Entdeckten dann per Bahn wieder bis Brüssel oder Waremme durch, um es von neuem zu versuchen. Wearemme war daher Ausgangs- und Ruhepunkt einer zirkulären Bewegung, die manchmal zum Erfolg führt. Ausdrucke von Handyaufnahmen von der Ankunft und Aufnahme im Vereinigten Königreich schmückten eine Wand im Maison de la Laïcité. Manche, so erzählte uns ein ehremamtlicher Mitarbeiter, schickten Handyvideos, die sie tanzend im Inneren eines Lastwagens zeigten, nachdem sie die Gewissheit erlangt hätten, Grenze passiert zu haben.

Das ehrenamtliche Personal des Maison de la Laïcité gab an fünf Tagen pro Woche frisch zubereitete Mahlzeiten aus, betrieb eine Kleiderkammer, vermittelte Zugang zu medizinischer und rechtlicher Hilfe und stellte einen Ruheraum bereit. Eine Unterkunft bot es nicht, allerdings vermittelte es Beherberhungen bei lokalen Familien. Solche Bürger_innen-Asyle sind vor allem im wallonischen Teil Belgiens fester Bestandteil solidaritscher Arbeit. Die meisten Migrant_innen schliefen daher nicht im Camp, sondern in Häusern.

Die Corona-Krise veränderte die Situation stark. Zunächst musste Maison de la Laïcité als Anlaufstelle für drei Wochen schließen, um Versammlungen zu vermeiden. „Wir verteilen die Mahlzeiten individuell. Unsere Freunde sind eingeladen, bei der [beherbergenden] Familie zu bleiben“, schrieb ein ehrenamtlicher Helfer am 14. März 2020 per Mail. Wie der Fernsehsender RTC Télé Liège am 19. März berichtete, stellte die Kommune für 18 nicht untergebrachte Migrant_innen behelfsmäßige Räume zur Verfügung, übertrug die Betreuung dem Kollektiv des Maison de la Laïcité und kündigte die Räumung des Camps an, da es nicht den Anforderungen der Ausgangsbeschränkungen entspreche.

Inzwischen wurden die Ausgangsbeschränkungen in Belgien bis zum 19. April 2020 verlängert. Den meisten Belgier_innen ist es nur möglich, sich maximal zwei Stunden am Tag im Umfeld ihrer Wohnung zu bewegen. Diese Bedingungen gelten identisch für die Bewohner_innen der provisorischen Unterkunft. Wie ein ehrenamtlicher Helfer am 30. März 2020 telefonisch mitteilte, sind er oder seine Kolleg_innen 24 Stunden pro Tag in der Unterkunft präsent und achten u.a. auf die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen, die in Belgien strenger kontrolliert werden als im benachbarten Nordrhein-Westfalen.