Zu Konjunktur und Hysterie der Kanal-Überfahrten
Sechs Boote und ein Kajak – mit diesen Gefährten überquerten insgesamt 80 Migranten am letzten Dienstag im Mai die Meerenge von Calais: 15 Frauen und 65 Männer, so bestätigte das Londoner Home Office, aus den Herkunftsländern Libyen, Marokko, Irak, Syrien, Kuwait, Iran, Afghanistan, Eritrea und Sudan. Britische Border Force – Schiffe brachten die Passagiere nach Dover, wo sie medizinisch versorgt wurden, hieß es weiter. Die Immigrationsbehörde werde einen Teil von ihnen zunächst festhalten, während andere zurück nach Frankreich gebracht werden sollten.
Der ziemlich vage Kommentar zum weiteren Schicksal dieser Geflüchteten zeigt, wie verschwommen die Situation bezüglich der Bootsüberfahrten ist, die seit Ende 2018 stetig zunehmen und mittlerweile zum Reiz- Thema zwischen den Kanal-Anrainern geworden sind. 681 Personen erreichten laut britischen Medien alleine im Mai von Nordfrankreich aus die englische Südostküste. Am 8. Mai waren es 145 – soviel wie noch nie an einem einzigen Tag. 1.336 sind es seit Beginn des Lockdown, und 1.715 im gesamten Jahr. Der bisherige Rekord, 1.892 Personen im Gesamtjahr 2019, wird eher zu Beginn als am Ende des Sommers übertroffen werden. Die französische Regionalzeitung La Voix du Nord errechnete Ende April für das erste Drittel des Jahres eine Zunahme von 156 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres.
Von der bemerkenswerten Dynamik, die hier im Gang ist, zeugen auch die oben genannten Herkunftsländer: Sie stellen einen Querschnitt durch die globalen Krisenzonen dar und sind damit auch repräsentativ für die Migranten, die seit rund zwei Jahrzehnten um Calais und Dunkerque herum ausharren. Im Herbst 2018 dagegen, als aus den bis dahin nur in Einzelfällen praktizierten Bootspassagen eine gängige, teils von den Migranten selbst organisierte und teils von Schleusern angebotene Praxis wurden, waren es vornehmlich Iraner, die auf diese Weise nach England zu kommen versuchten. Allein logistisch gesehen dürfte es sich um die bisher größte Veränderung im System der Transitmigration am Ärmelkanal handeln.
Gründe dafür gibt es mehrere: So ist aktuell zweifellos das lange anhaltende gute Wetter in diesem Frühling ein wichtiger Faktor. Auch in den vergangenen anderthalb Jahren kam es in Perioden mit ruhiger See jeweils zu vielen Überfahrten, wodurch immerhin eines der größten Risiken einer solchen Passage deutlich verringert wird. Weiterhin ist die Zahl der LKWs, die zu kommerziellen Zwecken den Kanal überqueren, während des Lockdownstark gesunken. Hinzu kommen die in dieser Phase noch einmal erschwerten Lebensumstände in den provisorischen Camps in Calais und Dunkerque.
Die BBC zitierte dazu Anfang Mai Clare Moseley, Gründerin der Hilfsorganisation Care4Calais: Demnach sei es kein Wunder, dass diejenigen, die in den französischen Camps leben, aufgrund ihrer schrecklichen Lebensumstände fest entschlossen seien, die gefährliche Passage zu wagen. Ihre ohnehin schon schlechte Situation habe sich dadurch „lebensbedrohlich verschlechtert”.
Zwar trifft es zu, dass sich die ohnehin extremen Lebensumstände verschlechtert haben, bleibt die Argumentation bezüglich der Bootspassagen holprig. Denn sie legt nahe, dass Transitmigranten bei akzeptableren Bedingungen auf der französischen Seite des Kanals eher geneigt wären dort zu bleiben. Dabei ist der einzige Grund ihrer Anwesenheit just die Nähe zur britischen Küste, die bei guter Sicht von der Strandpromenade in Calais aus sichtbar ist. Eher sind es die immer höher gezogenen Zäune und eine Grenzsicherung auf Steroiden, die Boote zu einer Alternative gemacht haben.
In der Gemengelage der unterschiedlichen Faktoren spielt allerdings ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle: In den vergangenen anderthalb Jahren hat sich um die Elends-Camps von Calais und Dunkerque herum eine entsprechende Infrastruktur herausgebildet, in der klandestine Passagen zum Preis von durchschnittlich etwa 3.000 Euro zwar mit Sicherheit nicht für alle erschwinglich sind, aber sich als allgemeine Transportmethode etabliert haben. Angebot und Nachfrage halten das System instand, so wie es zuvor bereits bei Passagen mit Hilfe von LKWs der Fall gewesen war.
Auch diese waren mit zunehmender Verschließung der Grenze fast nur noch mit Hilfe von Schleusern, am Kanal auch ‚Agenten‘ oder schlicht ‚Mafias‘ genannt, möglich gewesen und wurden in verschiedenen Formen von der professionell durchorganisierten Passage etwa auf einem präparierten Fahrzeug bis hin zum einfachen Zugang zu einem von den Fahrern frequentierten Parkplatz angeboten. Die verlangten Preise für eine durchorganisierte Schleusung entsprachen dabei etwa dem Preis für einen Platz auf einem Boot oder lagen mit etwa 5.000 Euro sogar höher, der Preis für einen Zugang zu einem Parkplatz hingegen war etwa um den Faktor 10 geringer. Dies zeigt, dass sich die Bootspassagen in ein bereits etabliertes Preisgefüge eingeordnet und ihren Markt erschlossen haben.
Ein zumal in den Medien weithin unterschätzter Aspekt mag auf den ersten Blick – aber auch nur dann – überraschen. Jedenfalls, wenn man von den eindringlichen Warnungen ausgeht, die Politiker, NGOs oder nautisch erfahrene Personen in den vergangenen Monaten immer wieder äußerten. Zurecht, zweifellos, denn die Meerenge von Calais ist, auch wenn sie nur gut 30 Kilometer misst, ein extrem gefährlicher Ort für ein Schlauch- oder ein anderes niedriges Boot. Ein willkürlicher Blick auf eine Tracking-Website wie marinetraffic.com verdeutlicht dies.
Zugleich gibt es jedoch den vielhundetfachen Erfahrungswert, dass dieses Unterfangen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit gelingen kann – und zwar offenbar wesentlich häufiger als bei jeder anderen Transportmethode. Die Calaiser Aktivistin Maya Konforti schätzte die Erfolgsaussichten auf diesem Blog kürzlich auf mehr als 50 Prozent. Im Vergleich zu den fast chancelosen und zugleich überaus aufwändigen und lebensgefährlichen Passagen per LKW oder Eurostar-Zug ist das geradezu astronomisch. Letztere waren und sind für diejenigen, die dies weiterhin versuchen, durchweg verbunden mit Kletterpartien über Natodraht-Zäune, Sprüngen aus großer Höhe, waghalsigen nächtlichen Autobahn-Überquerungen oder stundenlangem Kampf gegen das Einschlafen bei Tempo 100 über der Achse eines Truck. Die meisten Todesfälle der vergangenen Jahre ereigneten sich in solchen Situationen, sehr viel seltener jedoch auf See.
Wer sich wundert, wie diese vermeintlich leichtsinnigen Migranten die gut gemeinten Warnungen in den Wand schlagen – genau diese Situationen sind ihr Referenzrahmen. Hinzu kommt: Wer es bis an den Ärmelkanal geschafft hat, befand sich unterwegs mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens einmal in Lebensgefahr. Auch dies relativiert das Gefahren-Szenario einer Schlauchbootfahrt Richtung Dover.
Die relativ hohe Erfolgsquote wiederum sorgt in Großbritannien zumal in diesem Corona-Frühjahr für Unmut. Ende Mai machte ein Vorwurf von Nigel Farage, Chef der nationalistischen Brexit Party, Schlagzeilen: Demnach würden die Migranten von französischen Marineschiffen „eskortiert” und dann der britischen Küstenwache übergeben. Farage, der mehrfach zu früher Morgenstund auf Booten im Kanal herumfuhr, warnt für den Sommer vor einer “Invasion”. Hier deutet sich eine populistische Dynamik an, die es vor dem Hintergrund der tatsächlich zu erwartende Zunahme der Passagen in den nächsten Wochen im Auge zu behalten gilt.
Der öffentliche Druck auf die Regierung in London steigt als Folge dieser Debatte an. Dieser Effekt könnte sich verstärken, wenn das Abflauen der akutesten Corona-Krise mehr Raum für andere Themen bietet und man sich erinnern wird, dass es vor dem Notstand ein Projekt namens Brexit gab. Zur Erinnerung: Auf der anderen Seite des Kanals bewirkte im Winter 2018/19 nicht zuletzt das Gerücht, der nahende Brexit bedeute die Schließung der Grenzen, dass mehr und mehr Migranten sich auf ein Boot begaben.
Der in dieser Phase entwickelte Joint action plan der Regierungen in London und Paris vom Januar 2019 sieht vor, die „Migrationsprozessse aktiv zu managen, inklusive Rückführungen“. Ein Treffen der Innenminister Christophe Castaner und Priti Pastel im August 2019 bilanzierte, mehr als 30 asylsuchende Migranten seien auf der Grundlage der Dublin-Verordnung nach Frankreich zurückgebracht worden, während Frankreich die Abfahrt von 700 Personen verhindert habe. Wegen einer „anhaltenden Bedrohung“ strebte man weiter an, die Zahl Passagen des letzten Sommers bis zum Herbst zu halbieren, zum Jahresende „weiter zu reduzieren“, sodass sie schließlich „im Frühling 2020 ein seltenes Phänomen geworden“ sein sollten.
Dieses aus heutiger Sicht grotesk anmutende Szenario offenbart einmal mehr, dass sich die Frage der Transitmigration am Ärmelkanal mit aller repressiven Grenzsicherung schlicht nicht lösen lässt. Dessen ungeachtet gab Innenministerin Priti Patel im April bekannt: „Ich bin entschlossen diesen kriminellen Handel zu stoppen.“ Die BBC zitierte zuletzt den ehemaligen Chef der Border Force, Tony Smith: „Dies wird zu einer großen Bedrohung der Grenze des Vereinigten Königreichs.“
In der zweiten Mai-Hälfte nun rief das Home Office die „Operation Sillath“ ins Leben, um Bootspassagiere zurück nach Frankreich zu bringen. Über den genauen Umfang, Charakter und Auftrag dieser Operation ist bislang wenig bekannt, doch war eine große Anzahl von Rückführungen oder Push backs bereits im Joint action plan vom Januar 2019 als ein strategisches Kernelement benannt worden, auch und gerade aufgrund der abschreckenden und frustrierenden Wirkung, die man davon erwartete. Tatsächlich blieben Rückführungen jedoch selten und sollen offenbar verstärkt werden. Nach einem Bericht im Guardian kritisieren britische Menschenrechtsanwälte, dass umgehende Rückschiebungen bereits angewendet würden, ohne den Asylantrag ernsthaft zu prüfen. „Ein ungeheuerlicher Bruch europäischen Rechts, der zuließe, dass viele Asylsuchende fälschlicherweise aus dem Vereinigten Königreich entfernt würden“, wird die Anwältin Lily Parrott zitiert. Anfang Mai hatte Innenministerin Patel bei Gesprächen in Paris darauf gedrängt, dass Frankreich über den Kanal abgeschobene Migranten zurücknehme.
Gut möglich ist daher, dass sich im Sommer sowohl die Debatte um die Bootspassagen als auch die Situation im Kanal selbst zuspitzt. Auch die geographischen Faktoren und topographischen Bedingungen der Überfahrtsrouten dürften damit weiter in den Blickpunkt geraten. Auf französischer Seite reicht das bisher bekannte Gebiet, in dem Boote in See stechen, von Dunkerque über Calais bis südlich von Boulogne-sur-Mer, was rund 100 Kilometern Küste entspricht. Wer eine Nachtfähre von Calais nach Dover nimmt, sieht unmittelbar hinter den Lichtern der Stadt nur eine tiefschwarze Dunkelheit, wo sich die doppelte Landspitze des Cap Gris-Nez und Cap Blanc-Nez befindet. Eine Szenerie wie geschaffen, um unerkannt zu Wasser gelangen.
Dort, zwischen Calais und dem Anstieg zu den Kaps befindet sich ein Sandstrand voller kleiner Buden, der von der Landseite her gut anfahrbar ist. Fernsehaufnahmen ablegender Boote und damit zusammenhängender Polizeieinsätze stammen teils aus diesem Gebiet, ein aktueller Bericht sogar von einer Stelle am Ende der Strandpromenade von Calais. Im Gebiet der Kaps existiert eine Steilküste mit nur wenigen Küstensiedlungen und einem Dutzend abgelegener Anfahrtmöglichkeiten zum Meer. Folgt man der nun nach Süden abknickenden Küste weiter, verbreitert sich der Kanal und damit die per Boot zurückzulegende Distanz rapide.
In die entgegengesetzte Richtung, also von Calais aus nach Osten in Richtung der Hafenanlagen von Dunkerque, wird der Strand von einem breiten Dünenstreifen begleitet, in dem sich eine Vielzahl historischer Salinen o.ä. befinden. Sie bilden eine zellulär wirkende Struktur kleiner, mehr oder minder runder Wasserflächen, die durch schmale Dämme voneinander getrennt und in gewissen Abständen durch Zu- und Abläufe mit dem Meer verbunden sind. Eine Reihe flacher Bunker, zahlreiche Gebüsche und die an den Teichen angelegten Unterstände bieten eine Vielzahl potentieller Verstecke und Materialdepots, wie sie der Lokalpresse zufolge hin und wieder entdeckt werden.
Durch dieses Gelände führen zahlreiche teils befahrbare Pisten aus dem Hinterland zum Strand, sodass Boote und ihre Passagiere rasch zum Ablegeplatz gebracht werden können. Umgekehrt erschweren die Teiche und Zuläufe es den Behörden, durch das Gebiet zu patrouillieren oder rasch von einer Stelle an eine andere zu gelangen. Diese Landschaft bedeutet also einen taktischen Vorteil für die Bootspassagen, nicht aber für den Versuch, sie zu unterbinden. So wie die geographische Lage in Sichtweite Großbritanniens Calais zum Mittelpunkt des Migrationsgeschehens macht, kommt die Küstenlandschaft den Bootspassagen zugute. Diese politische Geographie der Küste spricht für eine Verstetigung der Bootspassagen, zumal ein Ausweichen auf andere Regionen die Passage zwar erheblich verlängert, aber nicht unmöglich macht.
Auf der britischen Seite zeugen die Orte der landings, an denen Migrantenboote anlegten, bereits von einer solchen Dynamik. Während sich das Geschehen bei Dover und an der Küste von Kent nordöstlich bis Deal und südwestlich bis in die Bucht jenseits von Folkestone abspielte, gab es in den letzten Wochen mehrere Ankünfte in der Gegend von Hastings, also in der südwestlich anschließenden Grafschaft Sussex. Die Möglichkeiten an einem britischen Strand anzulegen, sind nahezu unbegrenzt. Die bisweilen hysterische Reaktion in Großbritannien auf die Migrantenboote gehen genau auf dieses Bewusstsein und das in der britischen Gesellschaft aufgrund ihrer Kriegserfahrungen tief verwurzelte Schreckensszenario einer Invasion zurück.
Die geographische Entwicklung der Bootspassagen wird möglicherweise früher oder später eine räumliche Ausweitung und Verlagerung an andere Orte nachvollziehen, wie sie für die Passagen mit Lastwagen bereits seit Jahren zu beobachten ist. Die Verschlechterung der Chancen in Calais oder Dunkerque hat zu einer Verlagerung in das Umfeld anderer französischer Fährhäfen oder an Autobahnparkplätze des Hinterlandes geführt, punktuell sogar nach Nordspanien (Santander, Bilbao), Luxemburg in die belgische Provinz Lüttich nahe der deutschen Grenze. Es liegt auf der Hand, dass ähnliche Ausweichoptionen bei steigendem Verfolgungsdruck auch bei den Bootspassagen zunehmen werden, nicht zuletzt weil für das Ab- und Anlegen keine regulären Häfen und Infrastrukturen benötigt werden.
Zwar stellen die Bootspassagen eine sicherere und effektivere Reisemöglichkeit als das Verstecken in, unter oder auf LKWs, Fernbussen oder Zügen dar. Dennoch dürfen die erheblichen Risiken einer solchen Überfahrt sollten nicht übersehen werden, auch wenn man sich aus solidarischer Sicht über die jüngsten Erfolgsquoten freuen mag. Bedenklich ist auch, dass die Zahl allein reisender Minderjähriger sich im Vergleich zum Frühling 2019 nahezu verdoppelt hat. Bridget Chapman, aktiv beim Kent Refugee Action Network (KRAN), bestätigt dies aktuell gegenüber unserem Blog, während die verblienenen legalen Einreisewege für diese Gruppe momentan gekappt werden (siehe hier). Insofern hat die Forderung zahlreicher Hilfsorgansiationen und Menschenrechts-Aktivisten für das Recht auf sichere Einreise nichts von ihrer Relevanz und Aktualität verloren.