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Allgemein Calais

Bäume, Zäune, Räume

Zum Ineinandergreifen von Umwelt- und Grenzschutz

An der Route de Gravelines in Calais. (Foto: Th. Müller, Juni 2020)

Als wir Calais nach dem Ende des Lockdown besuchten, fanden wir dieses Schild. Es sagt manches, und es sagt manches nicht, und indem es beides tut, erzeugt es einen spezifischen (und durch diese Selektivität: rassistischen) Blick auf die Migrant_innen, den Jungle und die Landschaft, die ihn umgibt. Das Schild zu analysieren, legt zugleich eine Facette grenzbezogener Politik frei, die auch an anderen Orten zu beobachten ist, nämlich die Indienstnahme der vermeintlich natürlichen Umwelt und der im gesellschaftlichen Diskurs positiv besetzten Umweltpolitik zur Kontrolle und Verschließung von Räumen.

Das Schild besagt, dass die Stadtverwaltung von Calais einen Gebüschstreifen anlegen und Bäume aufforsten will. Es ist an einem Zaun entlang der Route de Gravelines befestigt, für dessen Bau im vergangenen Herbst genau dieser Gebüschstreifen gerodet worden war (siehe Foto unten). Der Zaun umgibt ein Waldgelände, in dem sich damals ein Teil der Zeltcamps des Jungle befand. Im Mai wurden diese geräumt, nachdem die Zelte mehrere Monate direkt hinter dem Zaun gestanden hatten, und die bis dahin noch offenen Zugänge zum Wald wurden verschlossen. Der Zaun sondert seitdem ein menschenlees Gebiet ab. Das Schild sagt, dass der Orkan Ciara (deutsch: Sabine) hier im Februar Bäume geschädigt habe und 43 hätten gefällt werden müssen. Hundert einheimische Bäume würden neu angepflanzt, und zwar Buchen, Pappeln und Eichen.

Bau des Zauns an der Route de Gravelines nach der Rodung des Gebüschstreifen. Rechts ein Teil des Jungle-Geländes. (Foto: Th. Müller, November 2019)

Das Schild sagt vieles nicht. Es übergeht den Umstand, dass der Zaunbau den Gebüschstreifen überhaupt erst beseitigt hat: dass hier in Wirklichkeit also eine Landschaftsarchitektur geschaffen wird, in der Natur- und Grenzschutz in einem begrünten Zaun bzw. einer sekuritisierten Vegetation zusammenfallen werden. Das Schild macht darüber hinaus die Menschen unsichtbar, deren Zelte in dem bereits umzäunten Wald standen, als Ciara und andere Frühjahrsstürme wüteten, und denen der Zaun im Ernstfall den Fluchtweg versperrt hätte. Und natürlich visualisiert es auch nicht die Verdrängung dieser Menschen in genau jene angrenzende Landschaft, die am oberen Rand der auf dem Schild abgebildeten Satellitenkarte zu sehen ist: die Gebüsch-, Brach-, Schotter- und Asphaltflächen im Industriegebiet Zone des Dunes, die nun umso dichter mit Zelten besetzt sind, nur eben auf einem wesentlich schlechteren Untergrund, als der Waldboden es immerhin gewesen war.

Der entgegengesetzte Rand des Jungle vor einem halben Jahr. Die Asphaltfläche ist heute dicht mit Zelten besiedelt. (Foto: Uwe Schlüper, November 2019)

Diese Indienstnahme von Landschaft und Natur zur Sekuritisierung des Grenzraums und zur Erzeugung einer lebensfeindlichen Umgebung für die Campbewohner_innen ist nicht nur eine Randnotiz. Sie stellt vielmehr einen oft übersehenen Aspekt von Grenzpolitik dar, der in Calais bereits mehrfach beobachtet werden konnte: etwa bei der Abholzung und Flutung von Geländen im Vorfeld der mehrfach gestaffelten Zäune rund um den Kanaltunnel, bei der Schaffung einer vegetrationsfreien Pufferzone zwischen dem früheren Jungle und der Zubringerautobahn zum Fährhafen oder auch bei der Renaturierung des damaligen Junglegeländes nach dessen Räumung im Oktober 2016.

Der heute nicht mehr existierende Jungle 2016. Im Vordergund die geräumte und panierte Freifläche mit Wassergraben (vorn) und Wall (hinten), die hier gerade als Kricket-Spielfeld genutzt wird. Im Hintergrund die Hütten- und Zeltsiedlung der Geflüchteten. (Foto: Th. Müller, April 2016)

Genau hierüber – also über die Renaturierung des 2016 geräumten Jungle – hat Hanna Rullmann geforscht. Ihre im Februar 2020 veröffentlichte Analyse Fort Vert: Nature conservation and border regime in Calais zeigt, dass das in den 1960er Jahren zunächst als Erweiterungsfläche der Zone Industrielle des dunes vorgesehene Gelände seit 2012 renaturiert werden sollte, um eine ökologische Ersatzfläche für den Hafenausbau zu schaffen. Anfang 2015 wurden dann die in verschiedenen Camps und besetzten Gebäuden lebenden Migrant_innen auf dieses Gebiet gelenkt, woraufhin innerhalb kurzer Zeit eine Hütten-, Zelt- und Containersiedlung mit zeitweise über 10.000 Bewohner_innen entstand, die bis zu ihrer Räumung im Oktober 2016 zum Inbegriff der Calaiser Jungles wurde und weltweite Aufmerksamkeit besaß.

Verbotstafel am Eingang des 2016 geräumten Jungle und beginnende Arbeiten zur Neukonstruktion der Landschaft (Foto: Th. Müller, April 2018)

Nach der Räumung begann die Küstenschutzbehörde Conservatoire du littoral mit der Renaturierung. Diese ist Teil des größeren Projekts Fort Vert, das die östlich angrenzenden Polder- und Dünenlandschaften einschließt und dessen Name sich auf eine der historischen Festungen zur Sicherung des Calaiser Hafens bezieht. Allerdings geschah die Renaturierung mit veränderten Vorzeichen.

Präsentation zur Renaturierung des 2016 geräumten Jungle-Geländes. Am linken Rand der Karte sind die Wälle, Gräben und Freisichtflächen entlang der Zubringerautobahn zum Fährhafen erkennbar. (Quelle: Conservatoire du littoral / Hanna Rullmann: Fort Vert: Nature conservation as border regime in Calais, S. 3)

Zu diesen Modifikationen zählt Rullmann vor allem die Einbeziehung der britischen Border Force in den Planungsprozess (S. 3). Das Gelände des geräumten Jungle (das etwa zur Hälfte Teil des Renaturierungsprojekts wurde und dessen andere Hälfte heute noch so daliegt wie nach der Räumung) wurde nach der peniblen Beseititigung der Siedlungsspuren in einem zweiten Schritt entwaldet und topographisch völlig verändert, sodass Rullmann zurecht von einer Neukonstruktion der Landschaft spricht. Neben Habitaten für bestimmte, im Planungsprozess selektiv ausgewählte Arten entstanden dabei bestimmte taktische Elemente. Eine Projektpräsentation der Küstenschutzbehörde zeigt u.a. Bewegungshindernisse wie sandige Wassergräben und Wälle sowie Freisichtflächen für Sicherheitskräfte. Rollmann spricht von „‚anti-intrusion‘ measures“, die der scheinbaren Naturlandschaft bewußt eingeschrieben worden seien und ihre Topographie definierten: „Functioning as means of ’natural‘ securitisation after the destruction of ‚The Jungle‘, these sandbanks, in addition to fences and a moat, prevent access to the site and thus new settlement […]. In addition, they make it impossible to see the interior of the space, as opposed to the complete visibility once inside (through the removal of higher vegetation and a levelling of the terrain), increasing the potential for surveillance.“ (S. 8) Dies, so argumentiert sie weiter, führe zu einem veränderten Verständis von Umwelt. „The environment must thus be understood as a technology in the formation and conservation of territory, shaping the border zone to be hostile to some, inviting to others.“ Eine solche einladende Umgebung sollte das untersuchte Gelände übrigens für migrating birds (Zugvögel) und das Sumpf-Glanzkraut (Liparis loeselii), eine Orchideenart, werden.

Gelände des ehemaligen Jungle nach der Renaturierung. Im Hintergrund die von weißen Zäunen umgebene Zubringerautobahn zum Fährhafen. (Foto: Th. Müller, Februar 2020)

Zurück zum Ausgangspunkt: Die Umzäunung und Verschließung des Waldgebietes am heutigen Jungle ist ein wesentlich trivialeres Projekt. Auch fehlt die symbolpolitische Bedeutung, die die Auslöschung und Überformung des alten Jungle als vermeintliches Ende der Calaiser Migrationsthematik für die französische Innenpolitik besessen hatte. Was jedoch auch hier deutlich wird, ist ein identischer Mechanismus des Ausschlusses der Menschen zugunsten einer artifiziell gestalteten Natur und selektiv ausgewählter Arten: Buchen, Pappeln, Eichen, Zugvögel oder Orchideen versus Migrant_innen.

Im März 2019 errichtete Zaunanlage am Standort früherer Camps. Nach der Räumug und Umzäunung dieses Areals bildete sich an anderer Stelle der heutige Jungle. Im Vordergrund ein Aushang des vom Eigentümer erwirkten Räumungstitels. (Foto: Th. Müller, Mai 2019).

Die Zäune, an denen das eingangs gezeigte Schild befestigt wurde, sind dabei Teil einer größeren Struktur baugleicher oder -ähnlicher Anlagen, die seit ungefähr zwei Jahren das Industriegebiet Zone des dunes nach und nach durchziehen. Waren zunächst nur unzusammenhängende Fragmente dieser Zaunanlagen sichtbar, so wird allmählich eine Systematik erkennbar, die auf die Verschließung der für Camps genutzten oder nutzbaren Grundstücke zielt und (wohl aus juristischen Gründen) dem Verlauf der Grundstücksgrenzen folgt. Auch hier vollziehen sich also eine Neukonstruktion von Landschaft sowie eine Neuregelung des Zugangs zum und der Bewegung im Raum. Dies erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Unwirtlichkeit und der Zermürbung, indem die Lebensfeindlichkeit der verbleibenden Räume ungeschminkt sichtbar ist und nicht abgemildert, sondern durch routinemäßige Polizeiaktionen verstetigt wird (siehe hier) wird. Diese Erzeugung einer inhumanen Landschaft zielt auf das Innere der Jungles, während die Renaturierung an ihren Rändern oder nach ihrer Auflösung stattfindet und sie gleichsam hinter einer alternativen, im gesellschaftlichen Diskurs positiv besetzten Erzählung verbirgt: Wir renaturieren.

Ausschnitt aus der am Orte der Räumung (wie Bild oben) im März 2019 angebrachten Räumungsverfügug. Die Satellitenkarte zeigt bereits den Verlauf der Zäune (blaue und gelbe Linien) entlang der Grundstücksgrenzen. Das Areal in der Mitte diente bis dahin als Standort für Camps, als Treffpunkt und zur Essensausgabe. Unten rechts das im Herbst 2019 abgezäunte und im Mai 2020 geräumte Waldgebiet. (Foto: Th. Müller, Mai 2019)

Die Renaturierung ist damit mehr als eine migrationspolitische Variante des Greenwashing. Sie ist sowohl die Konstruktion einer taktischen Landschaft, als auch eines neuen Narrativs. Wir pflanzen hundert Bäume. Wir schaffen ein Gebüsch. Hostile to some, inviting to others.

Update, 28. Juni 2020:

Zur gleichen Thematik veröffentlichte die Calais Migrant Solidarity heute ebenfalls einen Beitrag: „As the fences in the Dunes industrial area, and more and more often, fencing in Calais doesn’t even pretend anymore to have something to do with security, as it looks rather evident it’s just closing off once (or still!) inhabited pieces of land, thus rendering people more precarious or concentrating them in the left over areas, arising more tensions… only to then complain about it and dismantle the one place everyone is!