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Calais

Offener Brief an Innenminister Darmanin

Angesichts der massiven Räumungen ab dem 10. Juli 2020 (siehe hier, hier, hier und hier) richteten mehrere Menschenrechtsorganisationen, darunter die französische Flüchtlingshilfe Cimade, am 21. Juli einen offenen Brief an Innenminister Gérald Darmanin. Wir dokumentieren ihn in deutscher Übersetzung.

Lage der Exilierten an der britisch-französischen Küste

21. Juli 2020

Herr Minister Gérald Darmanin,

wir schreiben Ihnen diesen offenen Brief im Nachgang zu Ihrem Kurzbesuch in Calais am 12. Juli 2020. In Calais und im Calaisis (Großraum Calais) sind die Überlebensbedingungen der Exilierten an der britisch-französischen Küste unerträglich.

Wie alle Ihre Vorgänger mussten Sie also direkt nach Ihrer Ernennung zum Innenminister nach Calais kommen. Wie alle Ihre Vorgänger sind Sie mitsamt Kameras und Mikrofonen gekommen. Wie alle Ihre Vorgänger haben Sie vermutlich nur das gesehen, was man Ihnen zeigen wollte oder was Sie selbst sehen wollten.

Sie haben nur einen Teil der in Calais und Umgebung tätigen Akteure getroffen: die Sicherheitskräfte, die Präfektur sowie Staatsbehörden, die Stadtverwaltung, die im staatlichen Auftrag handelnden Vereinigungen und die auf französischem Gebiet tätigen britischen Behörden. Sie haben sich dazu entschlossen, weder die Exilierten zu treffen, die unter fürchterlichen Bedingungen überleben, noch die Calaiser Vereinigungen, die sie seit vielen Jahren begleiten. Sie haben nicht versucht, mit diesen Personen zu klären bzw. begreifen, warum sie sich auf diesem Stück Erde aufhalten.

Zwei Tage vor Ihrem Besuch wurden die Hauptlebens- und Schlafstätten der Exilierten zerstört und diese, egal ob sie es wollten oder nicht, weit weg von Calais gebracht. Insgesamt mussten mehr als 800 Menschen zusehen, wie ihre Notunterkünfte zerstört wurden. Davon wurden 519 gezwungen, in Busse einzusteigen. Männer, Frauen, Kinder, alle zusammengewürfelt, ohne jegliche Einschätzung ihrer Situation und ihrer Vulnerabilität.

Von diesen 519 Menschen, die weitläufig verteilt wurden, war annähernd die Hälfte am nächsten Tag zurück; viele weitere sind inzwischen zurückgekehrt. Jetzt haben diese Menschen keinen Zugang mehr zu Trinkwasser, Duschen und Nahrung. Denn, abgesehen von der Zerstörung der Notunterkünfte und der Vertreibung der Exilierten, hat die Räumung bzw. Evakuierung die Einstellung der Hauptverteilung von Nahrungsmitteln und der Duschmöglichkeiten zur Folge. Zwar sind die wenigen Wasserhähne, die Zugang zu Wasser ermöglichen könnten, noch vorhanden, aber sie werden durch die Polizei unzugänglich gemacht.

Der Staatsrat hatte die Verwaltungsbehörden angewiesen, « aufgrund eines Versagens, wodurch Menschen offensichtlich einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind, angemessene Einrichtungen anzubringen, um zu ermöglichen, provisorisch und solange Migrant_innen sich in Calais aufhalten […], dass Wasserstellen und Latrinen sowie Duschmöglichkeiten zur Verfügung stehen ».[1] Der Präsident, Emmanuel Macron, hatte anlässlich seines Besuches in Calais im Januar 2018 erklärt, dass der Staat die Verteilung von Nahrungsmitteln übernehmen würde.

Warum dann wurden diese zwei Einrichtungen – wenn auch nicht ausreichend, so doch unentbehrlich – abgeschafft, obwohl der Staat verpflichtet ist, dem internationalen Recht zu entsprechen, indem er allen Exilierten das Recht gewährt, ein würdiges und sicheres Leben zu führen, egal was ihr rechtlicher Status ist?

Herr Minister, wie Sie es vor der Nationalversammlung am 16. Juli gesagt haben, besteht diese Situation schon lange.

Tatsächlich sitzen seit 30 Jahren Menschen an der britisch-französischen Grenze fest, und seit 30 Jahren versuchen die Behörden, diese Menschen ungeachtet ihrer Rechte unsichtbar zu machen, indem sie diese malträtieren, sie vom notdürftigsten, neu errichteten Camp verjagen, ihre Habseligkeiten vernichten, die Exilierten zerstreuen, ihre wenigen Mittel oder ihre Ausweispapiere wegnehmen, oder ihnen die Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse verwehren.

Dabei wird ihre körperliche Unversehrtheit wissentlich gefährdet … Und dennoch sind diese Menschen immer noch vor Ort, zwar unter immer scheußlicheren Bedingungen, aber immer noch vor Ort.

Sie sagen, diese Situation dauere zu lange an? Da stimmen wir voll zu. Aber diese Situation werden Sie nicht beenden, indem Sie diese Verweigerungspolitik weiterführen.

Die Präsenz der Exilierten an der britisch-französischen Küste ist ein komplexes Thema. Die Erfahrungen der letzten 30 Jahre haben gezeigt, dass die brutale Antwort in Form von täglichen Räumungen durch die Polizei zu keiner würdigen Lösung, zu keiner Regelung, zu absolut nichts führt, außer zu noch mehr Leiden.

Herr Minister, es ist jetzt notwendig, die Sichtweise grundlegend zu ändern!

Ein anderer Weg ist zu gehen: der Weg der Anerkennung der Rechte, der Weg des Zuhörens und des Dialogs mit den Betreffenden, der Weg der Achtung der Würde jedes Einzelnen, der Weg des Beratschlagens mit allen beteiligten Akteuren in dem Versuch, Lösungen zu finden, die jeden einzelnen Menschen respektieren und gleichzeitig die Bedürfnisse und Grenzen aller berücksichtigen.

Herr Minister, wir sind bereit, mit vielen anderen dazu beizutragen.

Dafür obliegt es Ihnen und der Regierung, der Sie angehören, bereit zu sein, einen anderen Weg einzuschlagen als der Weg der ständigen Wiederholung der gleichen brutalen und entwürdigenden Antworten, die auch absolut nutzlos sind, da ohne jeglichen Ausweg.

Es eilt sehr.

Hochachtungsvoll

Liste der unterzeichnenden Organisationen

Francis Perrin, Vizepräsident von Amnesty International France
Dr. Philippe de Botton, Präsident von Médecins du Monde (Ärzte der Welt)
Dr. Mego Terzian, Präsident von Médecins Sans Frontières France (Ärzte ohne Grenzen)
Henry Masson, Präsident von La Cimade
Véronique Fayet, Präsidentin des Secours Catholique – Caritas France

Anmerkung:

[1] Staatsrat, 31. Juli 2017, Gemeinde Calais, Staatsminister, Innenminister, Beschluss N°412125, 412171 

Übersetzung: Nicole Guyau, Brigitte Vogt-Klein