Eine Recherche in Calais
Die Räumungen ab dem 10. Juli haben (siehe u.a. hier) die migratorische Geographie Calais stärker verändert als jeder andere staatliche Intervention der vergangenen drei Jahre. Das vielleicht charakteristischste Symbol dieser Veränderung ist das, was eine Lokalzeitung kürzlich als Verbunkerung der Zone Industrielle des Dunes bezeichnet hat. Dort, wo bis vor einem Monat mehrere informelle Camps in ihrer Summe den Jungle of Calais bildeten, ist nun von Zäunen gesicherte Leere. Deshalb sind die Camps aber nicht verschwunden. Sie haben sich lediglich über die Stadt und ihre Nachbargemeinden neu verteilt und werden sich vielleicht zu einem neuen Jungle verdichten. Während die Bootspassagen über den Ärmelkanal zum politischen Topthema in Großbritannien wurden und internationale Aufmerksamkeit finden, haben wir uns am 9. August in Calais umgesehen.
Der geräumte Jungle
Beginnen wir mit der Rue des Huttes. Bis vor einem Monat erstreckten sich beiderseits dieser Straße die Camps des Jungle, außerdem betrieb die Organisation La vie avtice dort in Zusammenarbeit mit der Präfektur eine Anlaufstelle mit Essensausgabe, sanitären Einrichtungen und Zugang zu Strom und Wasser. Das Foto zeigt die Straße heute. Gut zu erkennen sind die massiven Zäune mit aufgesetzten Klingendraht, die unmittelbar nach der Räumung errichtet wurden. Auch die Anlaufstelle von La vie active ist geschlossen, nur Trinkwasser kann dort noch abgefüllt werden – sofern man den Fußmrsch dorthin in Kauf nimmt.
Die Rue des Huttes endet an der Rue des Garennes, die das Industriegebiet Zone des Dunes geradlinig durchzieht. Entlang dieser Straße haben sich in den vergangenen 25 Jahren immer wieder Camps und Jungles gebildet, weil von dort aus der Fährhafen und dessen Zubringerautobahn gut erreichbar sind, vor allem aber weil es an diversen Tankstellen und Parkstreifen einmal die Chance gab, sich auf einem Lastwagen zu verstecken. Die meisten Tankstellen sind seit Jahren geschlossen, Parkplätze gibt es nicht mehr. Eine dieser geschlossenen Tankstellen ist hier zu sehen, daneben ein stillgelegtes Bahngleis. Auch über das hier abgebildete Areal erstreckte sich bis Juli der Jungle. Teils standen die Zelte auf Asphalt, Beton oder dem Gleisbett, allenfalls boten die Randstreifen ein wenig Schutz.
Parallel zur Rue des Huttes verläuft die Rue des Mouettes, bis zu der und über die hinaus die Camps des Jungle in die entgegengesetzte Richtung reichten. Wenige hundert Meter entfernt befand sich, abgetrennt durch die Zubringerautobahn des Fährhafens, bis 2016 der bislang größte Calaiser Jungle mit zeitweise 10.000 Bewohner_innen. Die neue Zaunanlage wird nach der Fertigstellung bis dorthin reichen.
Nach der Räumung des Jungle und eines Camps an der in einem anderen Stadtteil gelegenen Calypso-Sporthalle, in das sich viele Geflüchtete zurückgezogen hatten, besiedelten einige hundert Menschen unterschiedlicher Nationalität den Dubrulle-Wald. Er liegt am entgegengesetzten, der Innenstadt zugewandten Ende der Zone des Dunes. Sehr wahrscheinlich geht der in den 2000er Jahren etablierte Name Jungle of Calais auf diesen auch damals besiedelten Wald zurück. Nach der Räumung ist nun auch dieser Ausweichort umzäunt (siehe hier). Ein isolierter Abschnitt dieses Zauns war bereits 2017 errichtet worden und stand seitdem etwas grotesk am Waldrand. Nun wurde deutlich, dass die Verbunkerung der Zone des Dunes seitdem Schritt für Schritt vorangetrieben worden ist.
Die heutigen Camps
Nach den Räumungen des Jungle und des Dubrulle-Waldes entstand in der Nähe des Calaiser Krankenhauses ein neuer Schwerpunkt von Camps, aus denen sich möglicherweise ein neuer Jungle herausbilden kann (sofern wie diesen Begriff für die Verdichtung kleinerer Camps zu einem größeren Siedlungsplatz oftmals mehrerer Nationalitäten verwenden wollen). Das Gelände am Krankenhaus ist ein weitläufiges Brachgebiet mit zahllosen Gebüschen, Freiflächen und Pfaden. Dass dort Menschen leben, wird vor allem an den stark frequentierten Anlaufstellen für Trinkwasser, Nahrung, Strom und Informationen sichtbar, die lokale zivilgesellschaftliche Vereinigungen sowie die staatlich mandatierte La via active dort durchführen. Darüber hinaus sind die Camps diskret und von außen kaum sichtbar.
Ähnliches gilt für vier kleinere Camps, die im Bereich zwischen der Zone des Dunes und dem Krankenhaus in Reichweite der vorbeiführenden Zubringerautobahn bestehen. In einem dieser Camps, das bereits auf dem Gebiet der Nchbargemeinde Marck gelegen ist und von afghanischen Menschen genutzt wird, leben rund zur Hälfte Minderjährige und Familien. Vielleicht 70 Geflüchtete leben außerdem noch immer in der Zone des Dunes, wo sie in einem kleinen Bereich noch einige Rest- und Randflächen gefunden haben, auf denen man übernachten und sich aufhalten kann. Auch auf das Gebiet der Nachbargemeinden Sangatte und Coquelles sowie in die Innenstadt haben sich Geflüchtete zurückgezogen. Im Stadtbild sind die Migrant_innen wieder sichtbarer geworden.
Wie viele Migrant_innen momentan informell in Calais leben, ist schwer schätzbar. Nach Gesprächen mit verschiedenen Organisationen scheint ein Wert von etwa 1.000 bis 1.100 realistisch zu sein, allerdings weichen individuelle Schätzungen teils erheblich davon ab. Auch dies dürfte auf die Diskretion der Camps und individuellen Unterschlüpfe zurückzuführen sein. In der Regel richten sich Schätzungen daher nach der Menge verteilter Versorgungsgüter oder beruhen auf anderen Erfahrungswerten. Menschen sudanesischer Herkunft bilden momentan die größte Gruppe, gefolgt von Menschen aus Eritrea, Afghanistan, Iran, kleineren Gruppen aus Äthiopien, Libyen, Syrien und einer Handvoll Leute aus Gambia, Tschad, Burkina Faso, Côte d’Ivoire, Mali und Senegal. Allerdings beruhen auch diese Angaben auf subjektiven Einschätzungen, da genauere aktuelle Daten fehlen.
Die prekären Bedingungen, der polizeiliche Druck, die latente Verletzung elementarer Rechte haben indessen nicht nachgelassen. Auch der Druck auf die volunteers der zivilgesellschaftlichen Organisationen nimmt zu, insbesondere bei politisch nicht gewünschten Verteilungen von Hilfsgütern in der Innenstadt, obschon deren Legalität und Notwendigkeit seit 2017 höchstrichterlich bestätigt ist.
Ich würde die aktuelle Situation am ehesten als eine Tranformation beschreiben. Nach der Räumung und Sekuritisierung der Zone des Dunes und der Zerstreuung der Bewohner_innen auf eine Vielzahl von Camps und Unterschlüpfen ist noch nicht abschätzbar, ob sich etwa auf dem Gelände am Krankenhaus ein neuer Jungle entwickeln oder die Situation weiter im Fluss gehalten wird. Auch wird sich noch zeigen, welchen konkreten Einfluss die Bootspassagen üben: Werden die Calaiser Camps sich eher zu Durchgangsstationen einer solchen Passage entwickeln? Oder zu Orten derjenigen, die nicht die Mittel, den Willen oder die Absicht besitzen, um diesen Weg zu gehen? Momentan vermute ich eine Mischung aus beidem. Die Dynamik ist gleichwohl enorm.