Verbot nichtstaatlicher Nahrungsverteilungen für Geflüchtete in Calais
Als am 10. September 2020 die Meldungen über das brennende Lager Moria um die Welt gingen, reiste die Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart nach Paris, um mit Innenminister Gérald Darmanin über neue Maßnahmen gegen die obdachlos in ihrer Stadt lebenden Migrant_innen zu sprechen. Noch am gleichen Tag wies Darmanin den zuständigen Präfekten an, die Verteilung von Lebensmitteln durch Organisationen zu verbieten, die nicht durch den Staat mandatiert sind. Das Verbot betrifft damit den größten Teil der zivilgesellschaftlichen Strukturen in Calais und gilt zeitlich befristet für die Teile des Stadtgebiets, aus denen die Migrant_innen verdrängt werden sollen. Es wurde zu einem Zeitpunkt ausgesprochen, an dem die Infektionen mit dem Corona-Virus in Frankreich wieder stark ansteigen und u.a. das Departement Pas-de-Calais als sogenannte rote Zone (Corona-Risikogebiet) eingestuft wird. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche werden, anders als während der ersten Corona-Welle im Frühjahr, nun offensiv zur Begründung des Verbots herangezogen.
Verbote zivilgesellschaftlicher Nahrungs- und Hilfsgüterverteilungen hat es in Calais bereits mehrfach gegeben (siehe unten) – zuletzt aus Anlass des sogenannten Drachenfestes, einer touristischen Großveranstaltung mit einer fahrenden Drachenfigur am Allerheiligen-Wochenende 2019. In der Regel klagten die betroffenen Organisationen gegen solche Verbote, oft erfolgreich. Dass es einen erneuten Anlauf Boucharts geben werde, zeichnete sich seit den massiven Räumungswellen im Juli (siehe hier, hier und hier) ab. Damals besuchte der erst wenige Tage zuvor in sein Amt eingeführte Innenminister Darmanin, der wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs unter innenpolitischem Druck stand, Calais und markierte u.a. mit der Besichtigung der geräumten Flächen eine politische Priorität seiner weiteren Amtszeit. Bouchart wird seitdem nicht müde, Darmanin als starken politischen Verbündeten zu präsentieren.
Vor diesem Hintergrund schrieb die Bürgermeisterin dem Minister am 17. August, dass sich Migrant_innen nach den Räumungen vermehrt im Stadtzentrum aufhielten und einige zivilgesellschaftliche Organisationen dort unter bewusster Missachtung der Rechtslage Mahlzeiten verteilten, wodurch mitten in der Stadt ein neuer Fixpunkt geschaffen, die öffentliche Ordnung gestört und die Gesundheit gefährdet werde (NordLittoral, 10.9.2020). Am 3. September empörte sie sich gegenüber der Presse darüber, dass nach den Räumungen wieder genauso viele oder sogar mehr Migrant_innen in Calais lebten als zuvor. Sie bezeichnete die Nahrungsverteilungen als „Provokation“ und bezichtigte die zivilgesellschaftlichen Organisationen, „gemeinsame Interessen“ mit Schleusern zu haben. Außerdem warnte sie vor „Tragödien“ auf See durch die Zunahme der Bootspassagen und in ihrer Stadt durch „Spannungen“ in bestimmten Vierteln (La Voix du Nord, 6.9.2020). Tatsächlich dürfte es für eine Bürgermeisterin, die seit 2008 im Amt ist und die Bekämpfung der Exilierten zu ihrem Markenkern aufgebaut hat, klar gewesen sein, dass nach der Räumungswelle vom Juli ungefähr das geschehen würde, was dann auch geschah. Das Treffen mit dem Minister und das anschließende Verbot waren insofern weniger ein Krisenmanagement, als das Ergebnis einer politischen Kampagne.
Der Umweg über den Innenminister war nicht nur ein politischer Schachzug Boucharts, sondern hatte einen handfesten juristischen Hintergrund. Denn Ende 2019 hatte das Verwaltungsgericht von Lille festgestellt, dass die Stadt Calais gar nicht berechtigt sei, Verbote von Nahrungsverteilungen an Migrant_innen zu erlassen (NordLittoral, 10.9.2020).
Das am 10. September auf Anweisung des Ministers durch den Präfekten des Pas-de-Calais, Louis de Franc, ergangene Verbot folgte den im Vorfeld vermittelten Argumentationsketten. Konkret richtet es sich gegen die Verteilung von Mahlzeiten durch Organisationen, die hierzu nicht durch den Staat mandatiert sind. Da letzteres nur auf eine einzige Organisation, nämlich La via active zutrifft, betrifft er faktisch alle anderen. Das Verbot soll bis Ende September gelten und benennt eine Reihe von Straßen, Plätzen und Quais, in deren Umkreis Verteilungen nicht mehr erlaubt sind. „Die kostenlose Verteilung von Getränken und Lebensmitteln ist verboten, um die Störung der öffentlichen Ordnung zu beenden und die Gesundheitsrisiken im Zusammenhang mit nicht angemeldeten Versammlungen zu begrenzen“, zitierten mehrere Zeitungen die Präfektur. Stattdessen, so die Behörde weiter, sei La vie active beauftragt worden, täglich vier Essensausgaben durchzuführen und 38 Entnahmestellen für Trinkwasser bereitzustellen. Das Verbot instrumentalisiert damit den Schutz vor einer zweiten Welle der Pandemie (Vermeidung von Ansammlungen, Wahrung körperlicher Distanz usw.), um die Migrant_innen durch die Regulierung der Versorgungsleistungen aus bestimmten Teilen der Stadt zu verdrängen und Druck auf sie auszuüben.
Dies ist zwar mehr, als La vie actice während der ersten Corona-Welle im Frühjahr anbieten konnte, als sowohl die staatlichen als auch die freien Verteilungen von Mahlzeiten zeitweise ausgesetzt waren und nur bedingt kompensiert werden konnten; die ohnehin prekäre Lage in den Camps hatte sich damals massiv verschlechtert (siehe hier). Allerdings ist kaum vorstellbar, wie eine Versorgung von inzwischen rund 1.400 Menschen (vgl. InfoMigrants) auf dieser Grundlage möglich sein soll, noch dazu, wenn größere Menschenmengen an den Verteilungspunkten vermieden werden sollen. Am 12. September veröffentlichte Auberge des migrants ein Foto, das eine lange Warteschlang ohne körperliche Diszanz und ohne Masken vor einer Essensausgabe von La vie active im Bereich des Calaiser Krankenhauses zeigt, wo rund 700 Migrant_innen in mehreren Camps leben. Gerade die nun vom Verbot betroffenen Verteilungen könnten, so argumentiert die Organisation, diese Situation entlasten und so die Gefahr von Infektionen, aber auch von Spannungen in den Stadtteilen, verringern.
Das Verbot wird von allen zivilgesellschaftlichen Organisationen scharf verurteilt, manchmal verbunden mit einem ironischen Seitenhieb auf die Bemühungen Boucharts um ein neues touristisches Image ihrer Stadt. So erklärte die britische NGO Care4Calais am 12. September: „Yesterday Calais became the only city in the whole of France where distributing food and drink is illegal in the town centre.“ Die Auberge des migrants kündigte auf ihrer Facebook-Seite und in Gesprächen mit verschiedenen Medien an, das Verbot gerichtlich anzufechten und die Verteilungen in angepasster Form fortzusetzen, was von der Polizei zunächst wohl auch akzeptiert zu werden scheint. Neben regional tätigen Gruppen wie Auberge des Migrants, Utopia 56 und Help Refugees protestierten außerdem Amnesty International France, Médecins du Monde, Médecins Sans Frontières, La Cimade, Secours Catholique und die Fédération des acteurs de la solidarité mit einer gemeinsamen Erklärung gegen das Verbot.
Auch die Politikerin Marlene Schiappa, die Darmanin bei seinem Calais-Besuch im Juli als sogenannte delegierte Ministerin begleitet hatte, äußerte sich zum Verbot: „2000 Mahlzeiten pro Tag werden durch die vom Staat mandatierten Vereinigungen an die Migranten verteilt. C’est l’honneur de la France. / Was wir stoppen: Verteilungen, die Gesundheitsrisiken induzieren. Plus öffentliche Ordnung zum Schutz der Migranten und der Bürger von #Calais!“, schrieb sie am 11. September in einem Tweet, der den Einsatz von La vie active zu einem Akt der nationalen Ehre überhöhte.
Diese kurze Statement ist ein gutes Beispiel für ein europäisches Denken und Handeln, das der Soziologie Niki Kubaczek am gleichen Tag mit Blick auf Moria als zynische Rationalität charakterisierte. Der Rekurs auf die Ehre Frankreichs wirkt zugleich wie eine unfreiwillige Karikatur dieser Inhumanität.
Hintergrund: Frühere Verbote und die Mandatierung von La vie active
Die Behinderung und Kriminalisierung humanitärer Hilfe ist in Calais nicht neu. Die Ursprünge der aktuellen Entwicklung reichen in den Winter 2016/17 zurück:
Damals war es erst wenige Monate her, dass die französische Regierung den größten aller bisherigen Calaiser Jungles geräumt hatte. Bei einem monatlichen Zuwachs von zeitweise etwa 1.000 Personen hatten dort im September 2016 mehr 10.000 Menschen gelebt. Nach der Räumung im Oktober 2016 hielten sich zunächst nur wenige Migrant_innen in Calais und seiner Umgebung auf, doch wuchs ihre Zahl im Laufe des Winters auf einige Hundert an und schwankte danach mehrere Jahre lan zwischen 500 und 1000. Diese Menschen lebten im Winter 2016/17 im Freien, meist nicht einmal im Besitz eines Zeltes, und jedes Camp wurde bereits im Ansatz gewaltsam zerstört. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs, die im geäumten Jungle einen Großteil der Grundversorgung geleistet hatten, organisierten regelmäßige mobile Verteilungen von Mahlzeiten, Decken, Hygieneartikeln und anderen Hilfsgütern, schufen Zugänge zu medizinischer und rechtlicher Hilfe, unterstützten unbegleitete Minderjährig usw. Als die Migrant_innen auch im Stadtzentrum wieder sichtbarer wurden, wo sie etwa in Parks, in Grünstreifen und unter Brücken schliefen, erließ die Bürgermeisterin verschiedene Verbote gegen die Verteilung von Hilfsgütern an diesen Orten.
Einen ersten Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung, als der Kabinettschef der Bürgermeisterin am 8. Februar 2017 mit seinem Auto (das danach durch einem Müllcontainer ersetzt wurde), die Einfahrt zum Tageszentrum des französischen Caritasverbandes Secours catholique blockierte, um die Anlieferung von Mobilduschen für die Geflüchteten zu verhindern. Im März 2017 folgte eine Ausweitung des Verbots der Nahrungsverteilungen von der Innenstadt auf die Außenbereiche der Stadt, wohin sich die Geflüchteten nun mehr und mehr zurückzogen.
Als die zuständigen Gerichte solche Verbote kassierten, folgten polizeiliche Reglementierungen der Hilfsorganisationen, die ihre Arbeit nun auf bestimmte Plätze und Zeitfenster beschränken mussten, jedoch nicht aufgaben. Nach einigen Teilerfolgen vor dem Verwaltungsgericht in Lille erwirkten sie schließlich einen Beschluss des Staatsrats, also des obersten französischen Gerichts, der am 31. Juli 2017 die Legalität der Verteilungen anerkannte und den Staat zu elementaren Leistungen für die Geflüchteten verpflichtete. Auf dieses Urteil stützen sich in der heutigen Auseinandersetzung sowohl die zivilgesellschaftlichen Organisationen, als auch Bürgermeisterin Bouchart.
Die französische Regierung folgte dem Spruch des Staatsrats – tat dies aber nur widerwillig, indem sie Hilfen entweder an das Verlassen der Grenzregion zu Großbritannien knüpfte oder auf ein Minimum beschränkte. Letzteres geschah durch die Beauftragung des Sozialverbandes La vie active u.a. mit der Verteilung von Wasser und Nahrung. Die Organisation gehörte nicht zur Struktur der unabhängigen und oft langjährig erfahrenen Flüchtlingshilfe in Calais. Vielmehr hatte La vie active bereits im geräumten Jungle im staatlichen Auftrag ein Tageszentrum mit Zugang zu Nahrung, Wasser, Strom, Sanitäranlagen usw. sowie zwei Containerlager betrieben. Insbesondere das Tageszentrum hatte als eine Art Magnet gewirkt, der die zuvor an verschiedenen Orten der Stadt lebenden Migrant_innen auf ein dafür vorgesehenes Brachgelände lenkte, das in den folgenden anderthalb Jahren dann zum Inbegriff des Jungle of Calais wurde.
Nach dem erwähnten Grundsatzurteil des Staatsrats betrieb La via active unweit des geräumten Jungle eine Verteilungsstelle für Nahrung und Wasser, die außerdem über mobile Sanitäranlagen und Zugang zu elektrischem Strom verfügte. Die Verteilung geschah auf einem Grundstück an der Rue de Huttes im Industriegebiet Zone des Dunes. Mit der Zeit verlegten mehrere Communities ihre Camps in die Umgebung dieses Grundstücks, sodass es 2019 zum Mittelpunkt eines neuen Jungle wurde, der zwar den Namen seines prominenten Vorläufers teilte, jedoch sehr viel kleiner und aufgrund ständiger Räumungen ungleich prekärer blieb. Dieser Jungle war es, der an den beiden Vortagen von Darmanins und Schiappas symbolträchtigem Besuch in Calais im Juli 2020 endgültig geräumt wurde und sich danach in die Nähe des Calaiser Krankenhauses verlagerte.
La vie active hat während dieser gesamten Zeit nie ohne staatlichen Auftrag agiert, ist nicht Teil der zivilgesellschaftlichen Netzwerke geworden und hat zu keinem Zeitpunkt die alleinige Verantwortung für die Versorgung der Migrant_innen gehabt. Ohne die materiellen, finanziellen und personellen Ressourcen der freien Organisationen wäre eine auch nur rudimentäre Versorgung schlicht nicht möglich gewesen, und sie ist es auch heute nicht. Die staatlichen Behörden werden also, wollen sie eine humanitäre Katastrophe vermeiden, zwingnd auf die unabhängigen Strukturen angewiesen bleiben.