Räumungen in Calais, Razzien im Hinterland – was in diesen Tagen noch geschah, und welche Auswirkungen dies auf die Lage am Kanal haben könnte.
Einmal mehr überschlagen sich die Ereignisse rund um den Ärmelkanal.Während in Calais in den letzten Tagen zum wiederholten Mal in diesem Jahr auch die prekärsten Camps, notdürftigst eingerichtet in den immer engeren Nischen der systematischen Repression des Grenzregimes, geräumt und private Hilfeleistung kriminalisiert werden, sucht man sich auf der anderen Seite des Kanals, in Großbritannien, fieberhaft nach Möglichkeiten, die per Boot Übergesetzten noch vor Vollzug des Brexit zum Jahreswechsel aus dem Land zu schieben.
Unterdessen machte die in Den Haag ansässige EU-Justizbehörde Eurojust bekannt, in Zusammenarbeit mit Europol und den Behörden der Kanal-Anrainerstaaten einen Menschenschmuggelring ausgehoben zu haben. Dieses “große Netzwerk von Kriminellen” habe “Migranten unter lebensbedrohlichen Bedingungen über den Kanal” gebracht. Gemeldet wurden 12 Festnahmen, konfisziert wurden daneben auch 12 Autos, 10 Schlauchboote mit Motoren, ein Boot-Anhänger, 152 Schwimmwesten, ein Caravan, Juwelen und etwa 48.000 Euro an Bargeld.
Deutsche Medien berichteten bislang kaum über die konzertierte Aktion der britischen, französischen, belgischen und niederländischen Behörden. Dabei ist die zunehmende Kooperation der Nordsee-Anrainer gegen illegalisierte Kanal-Überquerungen und ihre – in der Regel ausbeuterische – Logistik eine deutliche Tendenz in den letzten Jahren. Die aktuelle begann am 28. September und dauerte “mehrere Tage” – da die Mitteilung von Eurojust vom 30. September datiert, waren es wohl zwei oder zweieinhalb. Von den 12 Festnahmen fanden sieben in Frankreich statt, drei in Großbritannien und zwei in den Niederlanden. Der Bericht auf der Eurojust-Website nennt ausdrücklich die grenzübergreifende Kooperation und Informationsaustausch als Mittel gegen “diese wachsende Form des Menschenschmuggels”. Seit September habe man zu diesem Zweck ein Joint Investigation Team (JIT) ins Leben gerufen.
Das Netzwerk bestand nach Eurojust-Angaben meist aus in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden ansässigen Iranern und soll “riesige Gewinne” mit den Passagen gemacht haben. Boote und Motoren seien in Deutschland sowie den Niederlanden gekauft und dann an die Abfahrtsorte am Kanal gebracht worden. Dort habe man den angehenden Passagieren beigebracht, wie ein Boot zu navigieren sei. Der Preis pro Person wird mit 3.000 Euro angegeben – ein Wert, der sich mit so gut wie allen Quellen deckt, den wir in den letzen anderthalb Jahren bei Recherchen hörten. Als besonders gefährliche Umstände nennt Eurojust die Wetterbedingungen und Überfüllung der Boote.
Die zeitliche Übereinstimmung mit den Räumungen in Calais ist zumindest auffällig. Deutlich ist dabei, dass das Phänomen der Transitmigration am Kanal viele Dimensionen hat, die es zugleich im Blick zu behalten gilt, will man die Entwicklung analysieren. Was die nahe Zukunft betrifft, sind nun, zu Beginn des Herbstes, drei Faktoren wichtig: zum einen das Wetter, das Bootspassagen deutlich riskanter machen wird, wenngleich, wie die letzten beiden Winter zeigten, keinesfalls unmöglich. Zweitens die extrem erschwerten Bedingungen on the ground in und um Calais, was einmal mehr andere Abfahrtsorte in den Fokus bringen könnte. Konkret muss der Blick sich natürlich auch auf das Schicksal von Hunderten Geflüchteter richten, die in den letzten Tagen aus Calais in andere, zumeist weit entfernte Teile Frankreichs transportiert wurden. Drittens ist da der herannahende Brexit, der für die Regierung in London aller Wahrscheinlichkeit nach das Ende der Option bedeutet, auf Basis des Dublin-Abkommens MigrantInnen zurück auf den Kontinent abzuschieben.
Dass der Schlag gegen den Schmuggelring kein Einzelfall ist, zeigt auch eine Meldung aus Belgien vor gerade mal einer Woche. Inhaltlich weist sie deutliche Parallelen zur Eurojust / Europol-Aktion auf. Am 23. September meldete die belgische Tagezeitung Het Laatste Nieuws, zwei iranische “Menschenschmuggler” seien von einem Gericht in Brugge zu Gefängnisstrafen von acht bzw. neun Jahren verurteilt worden, weil sie innerhalb eines halben Jahres mehrere Boote mit Geflüchteten inklusive Kindern über den Kanal geschickt hätten. Am Anfang dieses Falles stand ein in Deutschland als gestohlen gemeldeter Hyundai, der Anfang Mai in Koksijde an der belgischen Küste angehalten wurde. Dabei wurde ein Außenborder, Kanister mit Treibstoff, Schwimmwesten und ein Schlauchboot gefunden. Die Insassen des PKW: die beiden nun verurteilten Iraner.
Einer von ihnen erklärte der belgischen Polizei, sein Mitfahrer wollte die Gegenstände in Lille verkaufen. Die belgische Staatsanwaltschaft gab damals bekannt, ihrer Recherchen zu Folge wären beide seit längerem im Menschenschmuggel aktiv und Teil einer Organisation, die in Deutschland Schlauchboote und die nötige Ausrüstung kaufe und sie via Belgien nach Frankreich bringe. Dort suchten sie nach Passagieren für die Fahrt über den Kanal. Diese mussten nach Angaben der Staatsanwaltschaft erst beweisen, dass sie über 3.300 Euro verfügten. Die genaue Zahl ihrer Passagiere konnte das Gericht nicht ermitteln.