Die französisch- britische Grenze hat am Sonntagabend, dem 19. Dezember, ein weiteres Opfer gefordert. Es handelt sich um einen portugiesische LKW- Fahrer, der auf der Autobahn-Raststätte Aire de l’Épitre einem Herzstillstand erlag. Zuvor hatte er eine Auseinandersetzung mit mehreren Geflüchteten, die versuchten in seinen LKW zu gelangen. Wie die Regionalzeitung La Voix du Nord berichtet, wurde die Feuerwehr um 23:16 Uhr zu der Raststätte gerufen. Diese liegt an der A16, im Landesinneren zwischen Calais und Boulogne, und wird von TransitmigrantInnen häufiger genutzt um Zugang zu einem LKW zu bekommen. Bei ihrem Eintreffen fand die Feuerwehr den 48jährigen Fahrer mit Herz- und Atemstillstand vor. Versuche ihn wiederzubeleben blieben erfolglos.
Was zuvor geschah, fasst La Voix du Nord so zusammen: „Der Staatsanwalt des Gerichts von Boulogne, Guirec Le Bras, erklärte, dass der Lkw-Fahrer beim Parken gesehen hat, dass Migranten versuchten, in seinen Anhänger zu steigen“. Er war nicht allein, aber sein Kollege hatte sich von dem Lkw entfernt. Die Migranten waren „zwischen zwei und fünf, je nach Zeugenaussage“, fügte der Staatsanwalt hinzu. „Der Fahrer stieg aus seiner Kabine. Einer der Migranten versetzte ihm einen Schlag gegen den Kopf. Alle flüchteten. Der Fernfahrer stieg wieder in den Lkw. Sein Kollege bemerkte fünf Minuten später, dass er einen Schwächeanfall erlitten hatte.“ Laut Staatsanwaltschaft wird nun wegen „tödlicher Körperverletzung und Gewalt mit Todesfolge ohne Tötungsabsicht“ ermittelt. In den kommenden Tagen werde auch eine Autopsie durchgeführt.
Die Beschreibung deckt sich im Wesentlichen mit Berichten anderer Medien. Laut der Fach-Website trans.info wurden die Hilfskräfte bereits um 10.30 Uhr durch den zweiten, ebenfalls portugiesischen Fahrer benachrichtigt. Nach Schilderung dieses Mannes seien an der Auseinandersetzung drei Migranten beteiligt gewesen. Einer von ihnen habe dem Fahrer einen Schlag versetzt. Dieser sei daraufhin zu seinem LKW zurückgekehrt und habe fünf Minuten später einen Herzinfarkt erlitten und das Bewusstsein verloren. Offenbar nahm der Fahrer Medikamente wegen Herzbeschwerden. Eine andere Quelle berichtet, er sei zudem übergewichtig und Raucher gewesen.
Letztere Details mögen, zumal über die Details der Auseinandersetzung noch nicht mehr bekannt ist, beim Tod des Opfers eine große bis entscheidende Rolle gespielt haben. Weniger wichtig sind sie für die Rolle der Trucker bei der klandestinen Kanal-Überquerung. Gegen ihren Willen war diese zumindest bis zu der Zeit, seit der das Gros der Passagen mit Booten bestritten wurde, essentiell. Der Vorfall von Sonntag unterstreicht, dass LKW und ihre FahrerInnen noch immer eine wichtige Rolle spielen – alleine schon deshalb, weil diesen eine horrende Strafe von 2.000 Pfund droht, wenn sich in oder unter ihrem Fahrzeug blinde Passagiere befinden – selbst dann, wenn sie ihren Wagen aufmerksam untersucht und kontrolliert haben (siehe https://trans.info/en/migrant-altercation-267744). Damit wird ein Teil der Grenzsicherung auf einen Berufsstand abgewälzt, der in der Konstellation am Ärmelkanal ohnehin in einer besonders prekären Lage ist und auf diese Entscheidung selbstredend keinerlei Einfluss hat.
Weitere Details über den Fahrer sind bislang auch in portugiesischen Medien nicht bekannt. Für uns ist sein tragischer Tod ein Anlass, uns dieser Branche und ihren Arbeitsbedingungen am Kanal zu widmen. Ein heikles Thema, zugegeben, denn die Zwischenfälle, bei denen Trucker in bedrohlichen Situationen landeten, sei es durch Straßenblockaden oder gewalttätige Angriffe seitens Geflüchteter, dienen BefürworterInnen eines maximal unerbittlichen Grenzregimes seit Jahren als Argumente, die nur einen Schluss nahezulegen scheinen: Abschottung mit allen Mitteln. Genau wegen dieses diskursiven Potentials wiederum schlagen AkteurInnen, die gegen dieses Grenzregime eintreten, gerne einen Bogen um das Thema.
Macht man sich dagegen daran, die Einzelheiten dieser Konstellation zu analysieren, wird deutlich, dass es dazu keinen Anlass gibt. Eine Perspektive, die vom fundamentalen Menschenrecht auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit ausgeht, muss diejenige der Trucker nicht ausschließen und negieren – warum sollte sie dies auch tun? Gleiches gilt umgekehrt: das unerträgliche Elend der Geflüchteten und die strukturelle Gewalt, der sie am Kanal jeden Tag ausgesetzt sind, ändert nichts an einer Tatsache: Trucker sind in erster Linie Opfer eines ausbeuterischen Systems internationaler Arbeitsteilung, das gerade in diesem Teil des Logistik-Sektors besonders unerbittlich ist.
Bleiben wir einen Moment bei den wenigen bekannten Details des portugiesischen Fahrers: beinahe 50 Jahre alt, Risikofaktoren Rauchen und Übergewicht, Herzpatient – und trotzdem war er offenbar gezwungen, einen Beruf weiter auszuüben, der ihm nicht nur keinen gesundheitsfördernderen Lebensstil ermöglichte, sondern ihm dazu jede Menge Stress aufhalste – und zwar schon, bevor die TransitmigrantInnen als zusätzlich verschärfende Umstände mit potentiell lebensgefährlichen Konsequenzen ins Spiel kommen.
Von dieser Prekarität zeugt zum Beispiel, dass es in der Branche vor allem FahrerInnen aus Billiglohn-Ländern gibt – vor allem aus Osteuropa. Innerhalb dieser Region hat sich das Bild in den letzten 15 Jahren noch einmal verschoben: zwar kommen weiterhin viele Trucker aus Polen, Rumänien oder Bulgarien, doch seit diese EU-Mitglieder wurden, trifft man zunehmend Kollegen aus der Ukraine oder zuletzt auch aus Belarus an. Was ihre Situation zusätzlich prekär macht: je weniger sie verdienen, umso empfänglicher sind sie für ein Zubrot durch den Transport versteckter MigrantInnen. Im belgischen Zeebrugge, rund 100 Kilometer nordöstlich von Calais, erklärten uns mehrere Trucker aus Osteuropa schon vor Jahren, dass sie unterwegs zum Kanal schon ab Luxemburg auf Rastplätzen von Schleppern angesprochen würden.
Eine aktuelle Recherche im Rotterdamer Hafen zu einem anderen Thema – der globalen Krise der Containerschifffahrt – liefert unerwartet weitere Details, welche die Misere der Trucker illustrieren: Zum einen erzählte der Sprecher eines großen Container-Terminals, das zentrale Problem sei, dass die Logistik auf der Straße, sprich LKW- Transport, hinter der 24 Stunden auf Volltouren laufenden See-Logistik zurückbleibe. Die Lösung: Der LKW- Sektor müsse zum wahnwitzigen Rhythmus der Container-Schifffahrt aufschließen. Was zwangsläufig an Grenzen stößt, denn während sich die Kapazitäten von Containerschiffen in den letzten Jahren extrem vergrößert haben, sind diejenigen eines LKW begrenzt.
Hinzu kommt ein anderer Aspekt, den ein Gewerkschaftsvertreter Rotterdamer Hafenarbeiter bemerkte: Docker profitieren zumal in Europa von starken gewerkschaftlichen Strukturen und internationaler Vernetzung, was sie in der derzeitigen Situation schützt. Trucker haben diesen Status nicht, sondern sind dem wachsenden Druck ausgeliefert wie einem Aufprall ohne Airbag. In dieser Situation sorgt der Konkurrenzdruck für eine weitere Verlagerung in Billiglohn-Länder – der bekannte Teufelskreis des neoliberalen globalen Wirtschaftssystems.
Sinn und Zweck dieses kleinen Exkurses ist ein klarerer Blick auf den Berufsstand, der am Ärmelkanal zu alldem auch noch ungefragt mitten in der repressiven Elendsverwaltung der europäischen Migrationskrise landet. Trucker und Geflüchtete erscheinen auf deren Spielfeld als Akteure eines bizarren Stellvertreterkriegs – und zwar in entgegengesetzten Positionen. Erstere verfügen über etwas, das letzteren als einziger Ausweg ihrer elenden Lage erscheint – ein Fahrzeug, das in wenigen Stunden in England ankommen wird. Das einzige wiederum, was umgekehrt Trucker von Migranten haben wollen, ist ihre unbehelligte Ruhe. Alles andere ist eine Zumutung – die 2.000 Pfund Strafe, eine Auseinandersetzung, eine Straßenblockade.
Der migrationsfeindlichen Rechten erscheinen die Trucker – zumal dann, wenn sie sich nur noch mit einem Stock bewaffnet an den Kanal trauen – als Beweis ihrer Forderung nach Abschottung, aber auch als Bundgenossen, die sich notgedrungen selbst verteidigen, weil Europa oder der jeweilige Mitgliedsstaat versage. Eine Vereinnahmung, über deren Einseitigkeit man sich bewusst sein sollte. Fraglos sind viele Fahrer nicht gut auf die Geflüchteten zu sprechen – was allerdings in erster Linie an den extrem unangenehmen Umständen liegt, denen sie ausgesetzt sind.
Vielsagend ist in dieser Hinsicht ein Gespräch vor einigen Jahren in Marck, einer Kleinstadt nahe bei Calais mit einem riesigen LKW-Parkplatz. Ein litauischer Fahrer, der sich als Eddy vorstellte und in England wohnte – in gewisser Weise also auch ein Migrant, der dort nach einem besseren Leben suchte – sagte, Angst mache ihm sein Job nicht, doch Teile davon seien ein Albtraum. Selbst tagsüber, klagt er, versuchten Migranten in oder unter sein Fahrzeug zu gelangen, oder in den Zwischenraum zwischen Spoiler und Kabine. „Sobald man hier vom Parkplatz fährt und sich das Tor öffnet, sind sie da.“ Er zeigte auf die schwarze Plane seines Fahrzeugs. An beiden Seiten fanden sich lange Schnitte, durch die sich blinde Passagiere zwängen wollten, die nun repariert, aber deutlich sichtbar waren.
Eddy vertrieb sich auf dem bewachten Parkplatz nicht nur die Zeit, er unternahm auch die obligatorischen Inspektionen des eigenen LKW auf eventuell versteckte Passagiere, was am Kanal seit vielen Jahren zum Standard der Fahrer gehört. Zu jener Zeit war die Situation erheblich angespannt, weil kurz zuvor das erste Toesopfer unter Fahrern zu beklagen war. Wieder einmal hatten Migranten nachts die A16 mit Ästen blockiert, ein verzweifelter, lebensgefährlicher Versuch, LKW zum Bremsen zu zwingen. Beinahe vier Uhr morgens war es, als der Fahrer eines polnischen Transporters zu spät reagierte: Er prallte auf den bremsenden Truck vor ihm. Sein Fahrzeug ging in Flammen auf. „Manchmal setzen Migranten die Straßensperren in Brand“, erklärte Eddy. „Man sieht noch die geschwärzte Asphaltdecke.“
Ob er die Migranten verstehen könne, fragte ich Eddy? Schließlich kam auch er vor Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben nach England. „Hmmm“, überlegte er, „eigentlich nicht. Na ja, vielleicht. Jedenfalls will ich nicht mit ihnen kämpfen. Wenn sie mich am Rastplatz um eine Zigarette fragen, gebe ich ihnen natürlich eine.“
Wer sich an neuralgischen Punkten wie Marck eine Weile aufhält, wird einige auffällige Aspekte wahrnehmen, die ein anderes Licht auf die Beziehung zwischen Fahrern und Migranten werfen. Bei beiden Gruppen handelt es sich in der Regel um junge Männer, die unter erheblichen Entbehrungen versuchen, fernab von ihren Familien ein Leben zu finden, das sie ernähren und eine Form von Sicherheit geben kann. Man sieht ihnen die Fremdheit aus Hunderten Metern Entfernung an, wenn sie sich in kleinen Gruppen entlang dieser peripheren Orte bewegen, weitab von den Zentren der Städte. In den Händen tragen sie Plastiktüten mit billigem Essen, von der Nahrungsausgabe oder aus dem Discounter, das sie im kleinen Kreis hastig zu sich nehmen, denn das Ziel ist der Weg, der einzige, den es zu gehen gilt. Die einen tragen billige Klamotten aus dem Osten, die anderen Gratis-Kleidung aus den Klamottenkisten der Hilfsorganisationen. Jogginghosen sind bei beiden beliebt.
Orte wie Marck sind diejenigen, an denen sich beide Gruppen ungewollt in die Quere kommen. Oder die belgischen Autobahnraststätten in Richtung Küste, Rastplätze wie Grande-Synthe und Téteghem bei Dunkerque, die zeitweise komplett gesperrt waren, oder eben l’Épitre. Dort, berichtet La Voix du Nord anlässlich des Todes des portugiesischen Fahrers, wurde im September 2016 ein 34-jähriger Mann aus dem Sudan bei einer Schlägerei mit einer Gruppe von Kurden angeschossen. Zweieinhalb Jahre zuvor wurde in der Nähe der Tankstelle die Leiche eines 25-jährigen Albaners gefunden, der bei einer Auseinandersetzung zwischen mehreren Migranten erstochen worden sei.
Dass eine unentdeckte Reise nach England per LKW zunehmend unmöglich wurde, war ein wichtiger Aspekt, der ab 2019 den Anstieg der Bootspassagen begünstigte. Inzwischen bekommen diese gerade medial alle Aufmerksamkeit. Das Drama von l’Épitre beweist hingegen einmal mehr, dass sich das Thema LKW keineswegs erledigt hat – zumal nicht für jene, die sich die Dienste einer Schlepper-Organisation nicht leisten können. Dazu zählen in Calais seit Jahren die vielen Geflüchteten aus dem Sudan.
Was sie betrifft, gab es just in der Nacht, als wir uns entschlossen, einen Text zu Hintergründen der Trucker zu veröffentlichen, eine weitere Schreckensnachricht: Im Industriegebiet Transmarck, nahe des oben beschriebenen Trucker-Parkplatzes von Marck, fiel ein 16jähriger Sudanese von einem LKW. Laut La Voix du Nord hatte er sich zwischen Führerhaus und Anhänger versteckt, als der LKW losfuhr und er zu Boden stürzte. Er starb im Krankenhaus von Calais.
Weiter berichtet die Zeitung: „Laut einer Polizeiquelle, die von der Agence France-Presse zitiert wurde, wurde das Opfer von einer Gruppe von etwa 40 Migranten begleitet. Nach Angaben des Staatsanwalts hatten sie ‚eine Reihe von Steinen auf das Fahrzeug geschleudert‘. Der Fahrer des Lastwagens, der aus einem osteuropäischen Land stammte und durch die Geschosse leicht verletzt wurde (ebenfalls laut der Polizeiquelle), wurde von den Ermittlern vernommen. Es handelt sich um den dritten ähnlichen Todesfall seit September 2021 in diesem Gewerbegebiet. Im Oktober starb ein Migrant, der von einem Lastwagen erfasst worden war, im Krankenhaus von Calais. Am 28. September war ein 16-jähriger Migrant ebenfalls tödlich angefahren worden.“ (siehe hier und hier)