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Channel crossings & UK

Ein Wendepunkt? Bootspassagen nach der Havarie

Als die Kanalroute nach dem Tod von mindestens 27 Menschen eine Weile in den medialen Fokus rückte, wurde viel darüber spekuliert, ob die Katastrophe wohl einen Wendepunkt markiere. In der Tat sank die Zahl der Bootspassagen nach dem 24. November – dem Tag der Katastrophe, an dem knapp 800 Exilierte den Ärmelkanal überquert hatten –, praktisch auf Null. Der Grund dafür war allerdings schlechtes Wetter, das eine Bootspassage unmöglich machte. In nervöser Stimmung warteten rechte Akteure wie Nigel Farage auf den Tag, an dem sich das Wetter beruhigen würde, und stilisierten ihn zu einer Art Probe aufs Exempel: Ob Frankreich dann wohl willens oder in der Lage sei, weitere Bootspassagen zu unterbinden? Nun hat sich das Wetter beruhigt und über 900 Menschen durchquerten den Ärmelkanal am 16. und 17. Dezember in behelfsmäßigen Booten. Statt einer imaginierten Wende wird der Fortbestand des Status quo sichtbar.

Während der Schlechtwetterperiode nach der Havarie wurde nur einmal, nämlich am 4. Dezember, die Passage von 100 Channel crossers gemeldet; am gleichen Tag wurden in französischen Gewässern ein Boot mit 27 Passagier_innen aus Seenot gerettet. Erst am 15. Dezember gelangte dann wieder ein Boot mit 36 Personen nach Großbritannien, gefolgt von 19 Booten mit 559 Personen am 16. Dezember und 10 Booten mit 358 Personen am 17. Dezember. An diesen beiden Tagen wurden in französischen Gewässern 149 Menschen aus Seenot gerettet und auf dem französischen Festland 564 Personen am Ablegen gehindert. Damit stieg die Zahl erfolgreicher Bootspassagen seit Jahresbeginn auf über 27.700 Personen (alle Zahlen vgl. BBC bzw. Simon Jones). Dass in den ersten Tagen nach einer Schlechtwetterperiode besonders viele Boote übersetzen, wie es auch jetzt der Fall ist, lässt sich auf der Kanalroute seit Langem beobachten.

Die Katastrophe am 24. November hat weder die Gründe, aus denen sich Menschen zur riskanten Reise nach Großbriannien entschließen, noch das Geschäftsmodell der illegalen Unternehmen verändert, die in hohem Maße von der restriktiven Grenzpolitik profitieren, ohne durch staatliche Regulation zu irgendwelchen Sicherheitsstandards verpflichtet zu sein. Die stärkere Kontrolle und Sekuritisierung der Küstenlinie bewirkt auf diesem Markt eine höhere Risikobereitschaft, die wie eine Preissteigerung von den Unternehmer_innen an ihre Kund_innen, also von den Schleuser_innen an die Exilierten, weitergegeben wird. Mehrfach wiesen französische und britische Behörden sowie zivilgesellschaftliche Gruppen darauf hin, dass von den Schleuser_innen immer häufiger unsichere und seeuntüchtige Boote eingesetzt würden. Im Umfeld der Havarie am 24. November veröffentlichte beispielsweise die National Crime Agengy Fotos von Schlauchbooten, die durch Planen und Klebeband zusammengehalten werden und deren Boden und Heck einschließlich der Halterung für die Motoren aus Holzplatten bestehen.

Die scheinbare Null-Migration nach der Nachricht von den 27 Toten bildete den narrativen Rahmen weiterer Kontroll- und Sicherheitsprojekte, die zum großen Teil bereits früher auf den Weg gebracht worden waren. Neben der bereits laufenden Ausstattung der Strände von Dunkerque über Calais bis Boulogne-sur-Mer mit Überwachungskameras, dem Einsatz eines dänischen Frontex-Flugzeugs über der nordfranzösischen und belgischen Küste (ab 1. Dezember) und der Ankündigung Frankreichs, bei der Bekämpfung des Schleuserunwesens stärker mit EU-Partnerländern zusammenzuarbeiten und die in einigen Wochen beginnende EU-Ratspräsidentschaft hierfür zu nutzen, gehört hierzu die Verabschiedung des neuen britischen Staatsangehörigkeits- und Grenzgesetzes (Nationality and Borders Bill) am 8. Dezember. Das Gesetz war zwischenzeitlich um einen Passus zum Entzug der Staatszugehörigkeit erweitert worden und soll nun noch durch eine Einschränkung des britischen Menschenrechtsgesetzes flankiert werden, um Abschiebungen zu erleichtern. Eher unbemerkt von der Öffentlichkeit einigte sich die National Crime Agency mit Facebook, Instagram, YouTube, TikTok und Twitter, so der BBC-Journalist Simon Jones, „auf eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von kriminellen Gruppen, die das Internet nutzen, um Migranten, die den Ärmelkanal überqueren wollen, anzuwerben, mit ihnen zu kommunizieren und für eine Reihe von Dienstleistungen zu werben.“ (siehe auch hier)

Für das kommende Jahr ist also eine weitere Saison der Bootspassagen zu erwarten, die nach der Verdreifachung der Zahl im Jahr 2021 sogar noch weiter an Dynamik gewinnen könnte. War das Risiko, bei einer solchen Passage zu sterben, in den Anfangsjahren der Kanalroute vergleichsweise gering (insbesondere im Vergleich zum zuvor gängigen und auch heute noch praktizierten Verstecken auf, in oder unter einem Lastwagen), so sind die Channel crossings nun ungleich gefährlicher geworden. Nicht nur die Todesopfer, sondern auch die stark zugenommenen Rettungseinsätze belegen dies. Insofern symbolisiert die Havarie vom 24. November durchaus einen Umschlagspunkt.