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Dunkerque & Grande-Synthe

„Ein Schmutzfleck auf der europäischen Flagge“

Damien Carême war fast 20 Jahre lang der Bürgermeister von Grande-Synthe. In der Geografie der Transitmigration am Ärmelkanal ist diese Kleinstadt nahe des Hafens von Dunkerque seit Langem eine Konstante. Der frühere Sozialist wurde überregional bekannt, als er dort im Jahr 2016 ein humanitäres Camp errichten ließ – in Gegenmodell zum rein repressiven Konzept im benachbarten Calais.

Seit 2019 sitzt Carême als Abgeordneter der Grünen / EFA im EU- Parlament. Im Rahmen einer aktuellen Recherche in Calais und Dunkerque tauchte die Frage auf, wie Carême auf die derzeitige Situation am Kanal blickt. Anstelle des kurzen Statements, um das wir ihn baten, schickte er eine detaillierte Analyse der Lage, die wir im Folgenden übersetzt veröffentlichen.  

Damien Carême (Foto: EU- Parlament)

Am 24. November fühlte ich eine immense Traurigkeit und Wut über den Verlust von 27 Leben. Wie so viele andere hätte diese Tragödie vermieden werden können. Diese Tragödie ist die Konsequenz aus Jahrzehnten von Sekuritisierung und Militarisierung der Grenze zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich; von Brutalisierung und Schikanierung der Exilierten auf französischer Seite und dem harten Vorgehen der Johnson-Regierung. Boris Johnson sieht in der unmenschlichen Verschärfung der Migrationspolitik die Möglichkeit die Briten bezüglich des Brexit zu beruhigen.

Die Regierungen beiderseits des Kanals, die gegenüber den Exilierten ein Vokabular des Hasses benutzen, haben die Schlepper als einzige Schuldige angewiesen. Dabei sind sie diejenigen, die verantwortlich sind. Sie sind diejenigen, die das System geschaffen haben, das die Schlepper existieren lässt. Die Schmuggler erfüllen ein Bedürfnis. In Abwesenheit legaler und sicherer Kanäle haben die Exilierten keine andere Wahl als ihre Leben in die Hände dieser skrupellosen Netzwerke zu legen. Dies ist eine Schande und ein wirklicher  Schmutzfleck auf der europäischen Flagge.

Wenn zudem noch bestätigt wird, dass die schiffbrüchigen Leute die britischen und französischen Rettungsdienste kontaktierten, welche die Zuständigkeit abwälzten und nicht eingriffen, wäre die Verantwortung der gleichen Regierungen doppelt so schwer.

Niemand ist glücklich, sein oder ihr Land zu verlassen. Sie verlassen Krieg, Hunger und Elend. Man kann soviel Mauern und Stacheldraht hochziehen wie man will, aber sie versuchen weiter ein besseres Leben für sich und ihre Kinder zu bekommen. Genau wie du und ich. Wir hatten nur genug Glück auf einem friedlichen, wohlhabenden Kontinent geboren zu sein. Exilierte kommen seit Jahrzehnten nach Calais, in der Hoffnung das Vereinigte Königreich zu erreichen. Die Entscheidung ist also nicht, ob wir sie willkommen heißen, sondern wie wir sie willkommen heißen.

Als ich Bürgermeister von Grande-Synthe war, einer Stadt ein paar Kilometer von Calais entfernt, traf ich eine Entscheidung für Menschlichkeit und Solidarität. Ich konnte nicht Tausende Exilierte in der Kälte und im Regen probieren lassen zu überleben ohne etwas zu tun. Entgegen dem Standpunkt des französischen Staates und mit Hilfe von „Ärzte ohne Grenzen“ baute ich im März 2016 das erste humanitäre Camp für Geflüchtete in Frankreich, das mehr als tausend KurdInnen aufnehmen konnte, und dann zu einem Elendscamp verkam.

Die BewohnerInnen von Grande- Synthe beantworteten diesen Ruf und zeigten Solidarität: Organisationen, NGOs, Freiwillige und BürgerInnen waren beteiligt. Den gleichen Anstieg an Solidarität gegenüber jenen, die Zuflucht suchen, können wir an der Küste sehen, in Belgien, aber auch in Kent, auf der anderen Seite des Kanals. Die Wirklichkeit vor Ort, der Zustand der öffentlichen Meinung, hat sich weit entfernt von der widerlichen und populistischen Rhetorik jener, die an der Macht sind. Wir müssen aufhören die Werte von Teilen und Humanität unter den BürgerInnen zu unterschätzen. Ich sehe es überall: an der Kanal- Küste, in Montgenèvre an der französisch- italienischen Grenze, wo ich mehrere Male war, aber auch an der französisch-spanischen Grenze, an der Grenze zwischen Belarus und Polen… Überall, trotz der Hindernisse, die die Staaten errichten, kümmern sich Menschen um andere Menschen, heilen, versorgen sie mit Essen und heißen sie willkommen.

Unglücklicherweise wiegt diese menschliche Wärme den Missbrauch des französischen Staats nicht auf, der Exilierte schikaniert, die keine andere Chance haben als wahnsinnige Risiken einzugehen, um zu entkommen. Es erfüllt mich mit Scham und Wut zu wissen, dass unter den Toten der Tragödie vom 24.November einige auf dieses Boot gingen, weil ihre Lebensbedingungen in Calais nicht länger zu ertragen waren.  

Plage du Braek, einer der Ablege-Strände nahe Dunkerque

Dennoch hat das Drama vom 24. November nichts verändert, was die Würde der Exilierten betrifft. Nach Jahren des Tauziehens mit dem Vereinigten Königreichs, um die Grenze zu militarisieren und Stacheldraht, Mauern und Drohnen zu finanzieren, hat Frankreich die Überwachung der Küste durch ein Frontex-Flugzeug ausgehandelt, aber nichts für eine Politik des Empfangs von Exilierten. Heute fliegt in und um Calais ein Frontex-Flugzeug in kaum 300 Metern Höhe, ein Helikopter dreht seine Runden, die Polizei ist überall. Nichtsdestotroz leben die Exilierten weiterhin in unsäglichen und unmenschlichen Bedingungen, schlimmer als in 2015, bevor ich das Camp in Grande-Synthe bauen ließ. Solche furchtbaren Bedingungen, dass Exilierte am Donnerstag (Anmerkung: er meint den 9. Dezember) eine Beschwerde gegen den Stadtrat von Grande-Synthe einreichten wegen illegaler Räumung und Konfiszierens oder Zerstörung persönlichen Eigentums. Wenn die Situation nicht länger zu ertragen ist, ist es normal, Gerechtigkeit und Respekt für Grundrechte einzufordern.

Es gibt ein dringendes Bedürfnis legale und sichere Migrationsrouten einzurichten, sodass Exilierte nicht länger so viele Risiken durch Routen auf sich nehmen, die selbst noch gefährlicher sind. Geflüchtete müssen direkt aus Camps in Europa angesiedelt werden; zusätzliche Routen müssen für jene errichtet werden, die für Asyl nicht in Frage kommen. Wir müssen dem Dublin-Abkommen ein Ende bereiten – und seinem Prinzip des Landes der Erst-Einreise, was alle Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten ruiniert und Exilierte in schwierige rechtlich Situationen bringt.

Weiterhin müssen Push-backs, die Verletzungen von Menschenrechten und internationalen Verträgen, die Schikanierung der Exilierten, der Missbrauch durch den Staat, den wir überall sehen können, aufhören. Nicht nur in Calais und der gesamten Region Dunkerque muss eine wirkliche Politik des Empfangs und der Solidarität in Gang gesetzt werden, sondern überall an den Innen- und Außengrenzen der EU.

Schließlich müssen die französiche und die britische Regierung aufhören, das Schicksal der Exilierten für nationale politische Zwecke zu benutzen: Die Regierungen müssen aufhören auf populistische und rassistische Rhetorik zu setzen im Glauben, damit auf Erwartungen ihres Elektorats zu antworten. Dies ist nicht nur nicht im Einklang mit der Realität der öffentlichen Meinung, sondern auch furchtbar gefährlich.