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Britische Innenministerin bittet Social-Media-Konzerne um Zensur

Am 6. Juni 2021 hat sich die britische Innenministerin Priti Patel in einem Brief an diverse Social-Media-Konzerne gewandt und darauf gedrängt, dass diese größere Anstrengungen unternehmen, um Posts zu löschen, in denen die Channel Crossings „beworben oder gar verherrlicht“ würden. Diese seien „völlig inakzeptabel“. Darüber berichten unter anderem der Independant (€), Infomigrants, DailyMail, Heise, Metro und TalkRadio.

Anlass des Briefes ist ein kurzes, mit Musik unterlegtes Tiktok-Video mit dem Titel „Calais to Dover“, das sich viral verbreitet hatte. Es zeigt ein gutes Dutzend Exilierte bei der Querung des Kanals in einem Schlauchboot. Einige von ihnen tragen Rettungswesten, einer von ihnen zeigt das Victory-Zeichen. Die See ist vergleichsweise ruhig, durch den Sonnenaufgang vermittelt das Video eine freudige Atmosphäre. Dennoch ist die Überfüllung des Bootes klar zu erkennen. Das inzwischen bei TikTok gelöschte Video ist beschriftet mit „#unsuccessful.challenge#😭😭😭“.

Dennoch handelt es sich aus Sicht der britischen Innenministerin, die von vielen Medien offenbar geteilt wird, um Werbung von Schleuser_innen, die eine einfache Überfahrt suggerieren, aber nicht erwähnen, dass „Menschen bei dem Versuch sterben, diese Überfahrt zu unternehmen.“ Deswegen müssten die Internetgiganten handeln. Sie unterfüttert ihre Sicht der Dinge mit dem Hinweis auf die National Crime Agency, die „eine immer größere Rolle von sozialen Medien im Geschäft der Schleuser_innen“ konstatiert.

Facebook winkt ab, Refugee Council fordert sichere Routen

Ein Sprecher von Facebook stellte fest, dass die Aktivität von Schleuser_innen illegal sei, und Werbung, Seiten oder Posts im Zusammenhang mit diesen entsprechenden Aktivitäten auf Facebook nicht erlaubt seien. Facebook würde hinsichtlich entsprechender Posts weiterhin weltweit mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten.

Enver Solomon, der Vorsitzende des Refugee Council, sieht indes die Regierungspolitik in Bezug auf die Channel Crossings als gescheitert an. Die Ralität sei, dass Menschen vor Krieg, Terror und Verfolgung flöhen. Notwendig sei, sich nicht nur auf Verhinderung der Crossings zu konzentrieren, sondern sichere Migrationsrouten zu schaffen.

Auch wenn keine der Stellungnahmen neue Argumente ins Spiel bringt, ist der Vorgang bemerkenswert und lotet die Möglichkeit einer erheblichen Verschärfung der Kriminalisierung von irregulärer Migration aus, in dem verschiedene Motive und Akteure bewusst vermischt werden.

Marketing der Schleuser_innen

Weder können wir die Urheberschaft des Videos klären, das die Innenministerin so aufgebracht hat, noch überblicken wir das Marketing der Schleuser_innen, dennoch scheint es nicht plausibel, dass es sich bei dem Video um Werbung für Schleusungen handelt. Der Hashtag „#unsuccessful.challenge#😭😭😭“ lässt sich im gegebenen Kontext nicht anders sinnvoll interpretieren, als dass die im Video dokumentierte Überfahrt offenbar gescheitert ist. Dass Schleuser_innen für öffentliche Werbung nicht das Video einer erfolgreichen Überfahrt wählen würden, oder zumindest einen werbewirksameren Hashtag, ist schwer vorstellbar.

Schleuser_innen tragen das Risiko von teils erheblichen Strafandrohungen. Wenn sie ihrem Geschäft dennoch nachgehen, gehen sie von einem entsprechend niedrigen Entdeckungsrisiko aus, das sie kaum durch öffentlich aufrufbare Werbung erhöhen dürften.

Risikoneigung im Ausweglosen

Auch wenn die Urheberschaft von Schleuser_innen aus den verfügbaren Informationen als sehr unwahrscheinlich gelten muss, so ist das Video durchaus heikel. Es zeigt Menschen bei einer lebensgefährlichen Aktivität, ohne dass diese Lebensgefahr dem Betrachter vermittelt wird. Aus diesem Blickwinkel ist durchaus zu diskutieren, inwieweit Social-Media-Anbieter verantwortungsvoll handeln sollen, damit ihre Nutzer_innen nicht ihnen unbekannte oder unkalkulierbare Risiken eingehen.

Diese Diskussion gibt es etwa bei abseitigen Gesundheitstipps oder der Darstellung von Bergsportaktivitäten, die ohne geeignete Ausbildung oder geeignete Ausrüstung tödlich enden können, wobei gefodert wird, dass die Nutzer_innen durch Warnhinweise die Möglichkeit erhalten, sich über die Risiken zu informieren. Die Forderung nach einer Zensur der Beiträge ist eine Randposition.

Allerdings greift dieser Blickwinkel im Falle der Channel Crossings nicht. Die eingegangenen Risiken sind nur unter der Bedingung vermeidbar, dass die Exilierten das Migrationsziel Großbritannien aufgeben, was Exilierte unter Abwägung der Möglichkeiten, der Risiken und der Alternativen auch immer wieder tun. Und auch wenn man angesichts der inakzeptabel hohen Todeszahlen an dieser Grenze nicht unterstellen kann, jede_r, der den Versuch einer Passage unternimmt, sei vollständig über die Risiken informiert, so wird kaum jemand ein kurzes Tiktok-Video zur Grundlage seiner Migrationsentscheidung machen.

Trolle als Stichwortgeber? Zynikern gefällt das

Auch wenn das britische Innenministerium selbst – etwa auf seiner Website – keine Information für Exilierte bereitstellt und Informationskampagnen von NGOs hintertreibt (siehe hier), die vor den Lebensgefahren der Bootspassagen für die Exilierten warnen, gibt die Innenministerin mit Blick auf die sozialen Medien vor, ausschließlich diese Gefahren im Blick zu haben. Der politische Druck, unter dem sie wegen der vielen erfolgreichen Bootspassagen steht, gerät scheinbar in den Hintergrund. Die sozialen Netzwerke machen aber deutlich, in welchen Resonanzraum die Ministerin mit ihrer Aufforderung an die Technologiekonzerne spricht: Steve Laws, der in seinem Blog „Telling the Truth“ den „Mainstream-Medien“ Manipulation in Bezug auf die Berichterstattung über Migration unterstellt, und dort Verschwörungserzählungen und das Angstbild einer Invasion der britischen Inselns durch Migrant_innen bedient, hat den Tiktok-Film auf seinem Twitter-Account geteilt. Die Kommentator_innen äußern neben den gängigen Stereotypen über Geflüchtete Vorschläge wie: Haie im Kanal auszusetzen oder die Geflüchteten nur noch per Brief mit ihren Familien kommunizieren zu lassen.

Interessant wäre die Frage, ob die Innenministerin diesen Resonanzraum nicht sogar explizit bedient, oder sich seiner sogar als Stichwortgeber bedient. Interessant ist, dass Steve Lars das Video am 3. Juni bei Twitter gepostet hat, und in zwei Kommentaren vom gleichen Tag der Twitter-Account der Innenministerin verlinkt ist. Der zeitliche Zusammenhang zeigt zunächst einmal nur, dass das Social-Media-Team der Ministerin drei Tage vor ihrem Brief an die Technologiekonzerne durch einen rechten Medienaktivisten Kenntnis von dem Video erhalten hat und zum Handeln aufgefordert worden ist. Wäre dies tatsächlich der Anlaß des Briefes gewesen, dann unternähme die Innenministerin gerade den Versuch, die politischen Forderungen rechter Internettrolle über die Social-Media-Betreiber umsetzen zu lassen.

Screenshots aus Twitter

Was die Trolle an dem Video, stört ist keinesfalls die Lebensgefahr, in die sich eventuelle Nachahmer_innen begeben, es ist die schlichte Tatsache, dass die jungen Männer auf dem Boot bei ihrer (gescheiterten) Überfahrt gute Laune haben, dass sie sogar über Telefone verfügen, und dass der Sonnenaufgang für einen Moment eine gelöste Stimmung vermittelt. Ihr Wunsch ist, den Exilierten möge es einfach in jeder Sekunde ihres Lebens möglichst dreckig gehen.

Gefährlichkeit einer Gescheiterten

Die britische Innenministerin steht wegen der vielen erfolgreichen Bootspassagen (siehe zuletzt hier) politisch mit dem Rücken an der Wand. Insofern kann ihre Reaktion auf das Video durchaus als panischer Aktionismus verstanden werden. Sollte sie sich zu diesem durch Kommentator_innen eines obskuren Blogs hat treiben lassen, wäre dies kein gutes Vorzeichen für die Kultur der politischen Debatte. Noch fataler allerdings wäre es, wenn sie sich mit ihren Auffassungen durchsetzen könnte, gegebenfalls nur im politisch unzureichend transparenten Raum der Nutzungsbedingungen von Social-Media-Anbietern: Für die Menschen on the move wäre nicht nur ihr Grenzübertritt, ihr Aufenthalt, sondern praktisch jede öffentliche oder halböffentliche Äußerung zu ihrer Lebenssituation von Kriminalisierung oder Zensur bedroht. Für den politischen Raum ist tröstlich, dass das Vereinigte Königreich eine lange politische Tradition sowohl darin hat, die Meinungsfreiheit nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, als auch darin, gescheiterte Politiker_innen abzuservieren.

Das umstrittene Video (ohne Musikuntermalung).

Hinweis: Die Überquerung des Ärmelkanals im Boot ohne geeignete Ausbildung und Ausrüstung ist lebensgefählich.
Note: Crossing the Channel in a boat without proper training and equipment is viable.
Remarque: traverser la Manche en bateau sans formation ni équipement adéquats est viable.