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Channel crossings & UK

Über 5.000 Passagen seit Jahresbeginn

Nach wie vor passieren sehr viel mehr Exilierte den Ärmelkanal per Boot als im Vorjahr. Inzwischen dürfte ihre Zahl über 5.000 seit Jahresbeginn liegen. Während The Sunday Times meldete, dass diese Marke am 14. Juni überschritten worden sei, dürfte sie nach Berechnungen der BBC am Wochende des 19./20. Juni erreicht worden sein. Dies entspricht knapp dem Dreifachen des Vorjahreszeitraums (siehe hier). Im vergangenen Jahr war die Zahl 5.000 erst während der besonders stark frequentierten Hochsommermonate überschritten worden. Aus den Angaben der BBC und den tagesaktuellen Meldungen ihres Reporters Simon Jones ergibt sich außerdem, dass es zwischen dem 1. und 18. Juni mindestens 1.522 Channel migrants nach Großbritannien geschafft haben. Bis zum Monatsende werden es wahrscheinlich so viele sein wie im September 2021, dem Monat mit den meisten erfolgreichen crossings bisher.

Bereits Ende Mai war die Zahl der erfolreichen Passagen deutlich angestiegen, mit einem Höchstwert von 336 Menschen in 19 Booten am 28. Mai (siehe hier). Am 9. Juni erreichten 179 Passagier_innen die Insel, danach schwankte ihre Zahl zwischen 10 und 110 täglich. Wieviele Personen im gleichen Zeitraum von den französischen Behörden abgefangen wurden, ist nicht ganz klar. Die vorliegenden Zahlen sind unvollständig und schwanken zwischen 28 und 117 Personen pro Tag. Möglicherweise nimmt der Anteil unterbundener oder aus anderen Gründen scheiternder Passagen tendenziell etwas zu, allerdings lag er mit etwa zwei Dritteln erfolgreicher Versuche im Vorjahr und im Winter auch ausgesprochen hoch. Etwas geringere Erfolgsaussichten sind als Effekt der verstärkten Überwachung des Küstenstreifens beiderseits von Calais sowie zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze duchaus möglich, doch bleibt die Entwicklung der kommenden Monate abzuwarten.

Der Calaiser Lokalzeitung La voix du Nord zufolge wurden von der Präfektur des Departements Pas-de-Calais seit Jahresbeginn 290 Boote abgefangen, 224 erfolgreiche Überfahrten registriert und 74 mal Boote bzw. Ausrüstung für eine geplante Überfahrt entdeckt. Im Fall der abgefangenen Boote und der gelungenen Passagen seien dies mehr, im Fall der Boots- bzw. Materialfunde weniger als im Vorjahr. Am gleichen Tag veröffentlichte das Blatt eine Reportage über den nächtlichen Einsatzalltag der Groupe de sécurité publique (GSP), einer Einheit des lokalen Polizeikommissariats, die sich seit 2019 auf die Bootspassagen spezialisiert hat. Der Bericht zeichnet das Bild von Polizist_innen, die gelernt haben, Anzeichen einer bevorstehenden Passage wie etwa die Anwesenheit eines Spähers zu erkennen und auf sie zu reagieren, während ihre Observationen und Einsätze in den weitläufigen Dünengebieten aber nur teilweise erfolgreich verlaufen und mitunter an schlichten Naturphänomenen wie dem Nebel scheitern.

In seiner politischen Rhetorik stellt das britische Innenministerium den 5.000 gelungenen 5.000 unterbundene Bootspassagen gegenüber, was indirekt auf eine nach wie vor recht hohe Erfolgsquote von etwa Fifty-fifty schließen lässt:

„Almost 5,000 people have been prevented from making the dangerous crossing so far this year and we are cracking down on the despicable criminal gangs behind people smuggling“, zitierten die Daily Mail und anderen Medien einen Sprecher des Innenministeriums anlässlich der 5.000 gelungenen crossings: „Inaction is not an option whilst people are dying. The Government is bringing legislation forward through our New Plan for Immigration (siehe hier) which will break the business model of these heinous people smuggling networks and save lives.“

Diese Rhetorik erweckt den Eindruck eines massenhaften Sterbens im Ärmelkanal aufgrund der Nutzung von Booten. Dies aber ist ein Mythos. Zwar steht die Gefährlichkeit der Bootspassagen außer Zweifel und wir berichteten bereits mehrfach über Todesfälle (zuletzt hier). Doch ist das Risiko, bei einer solchen Überfahrt zu sterben, nach allem, was wir wissen, keineswegs höher als bei anderen Migrationstechniken, insbesondere beim Verstecken in einem Lastwagen. Den 5.000 Bootspassagen steht in diesem Jahr ein einziger Vermisstenfall gegenüber, wobei vom Tod der Person ausgegangen werden muss (siehe hier). Die Todesfälle der vergangenen beiden Jahre ereigneten sich teils bei kommerziellen Passagen durch Schleuser_innen, teils aber auch bei hochriskanten improvisierten Versuchen und in einem Fall infolge eines französischen Polizeieinsatzes zum Stoppen eines ablegenden Bootes (siehe hier).

Das Festhalten an der Illusion einer Schließbarkeit der Kanalroute mag materielle und ideologische Ressourcen für die geforderten Maßnahmen mobilisieren. Dadurch mag eines Tages die Dynamik dieser Route abnehmen. Aber das Risiko, bei einer dann noch schwieriger gewordenen Passage ums Leben zu kommen, wird im gleichen Maße zunehmen. Der Verweis auf das Sterben liest sich wie eine Spekulation auf das Sterben.