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Channel crossings & UK

Britischer Plan für eine Post-Brexit-Migrationspolitik

Titelseite des „New Plan für Immigation“. (Quelle: Home Office)

Am 24. März 2021 legte das britische Innenministerium seinen lange angekündigten Plan für eine Reform des Asyl- und Einwanderungsrechts vor. Das von Ministerin Priti Patel unterzeichnete Dokument stellt eine Vielzahl gesetzlicher und administrativer Neuregelungen vor, die in ihrer Gesamtheit auf ein wesentlich restriktiveres Migrationsregime der Post-Brexit-Phase hinauslaufen. Eine zentrale (auch argumentative) Rolle spielt dabei die Bekämpfung Channel crossings in kleinen Booten. Gleichzeitig haben die angekündigten Maßnahmen gravierende Auswirkungen auf alle Migrant_innen, die vom europäischen Festland nach Großbritannien zu gelangen versuchen. Das Papier kann zudem als eine abermalige Nachjustierung des britischen Grentregimes im doppelten Kontext des EU-Austritts und der Etablierung der Kanalroute (aktuell siehe hier) gelesen werden. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte.

Der New Plan for Immigration gliedert sich in ein Überblickskapitel zu den (wirklichen und vermeintlichen) Defiziten des gegenwärtigen Migrationssytems und sieben Kapitel über die geplanten Reformen: Protecting those Fleeing Persecution, Oppression and Tyranny / Ending Anomalies and Delivering Fairness in British National Law / Disrupting Criminal Networks and Reforming the Asylum System / Streamlining Asylum Claims and Appeals / Supporting Victims of Modern Slavery / Disrupting Criminal Networks Behind Prople Smuggling und Enforcing Removals […]. Einige dieser Punkte beziehen sich auf Bereiche des britischen Einwanderungs- und Asylrechts, die in unserem Kontext übergangen werden können. Gleichwohl durchzieht das Thema „illegale Einreise“, zugespitzt im Motiv der „kleinen Boote“, das gesamte Papier. Infografiken wie diese unterstreichen dies zusätzlich:

New Plan for Immigration: Infografik zum Anteil verschiedener Verkehrsmittel (Boot, Lastwagen, Flugzeug) an illegalen Eireisen. (Quelle: Home Office)

Argumentativ knüpft der Plan an ideologische Muster der Brexiteers an („regain souvereignts“, „we have taken back control“). Die geplanten Maßnahmen werden mit nationalen Interessen (oft in Verbindung mit Kostenargumenten) begründet und zugleich moralisch überhöht: „At the heart of our New Plan for Immigration is a simple principle: fairness. Access to the UK’s asylum system should be based on need, not on the ability to pay people smugglers.“ Durchgängig werden Verschärfungen als fair, aber streng, dargestellt; sie erscheinen als humanitäre Akte, um Menschen von „gefährlichen Reisen“ abzuhalten, Ausbeutung zu verhindern und „Leben“ zu retten: „Families and young children have lost their lives at sea, in lorries and in shipping containers, having put their trust in the hands of criminals. The way to stop these deaths is to stop the trade in people that causes them.“ Völlig unreflektiert bleibt, dass die Verschärfungen des Grenzregimes in der Vergangenheit stets zu riskanteren Migrationstechniken geführt und die Gefahr zu sterben daher tendenziell erhöht haben (siehe u.a. hier und hier). Das moralisierende Wording des Papiers ist insofern gerade dort irreführend und zynisch, wo Lebensrettung ins Spiel gebraqcht wird.

Ein weiterer und wohl auch sehr viel wichtigerer Schlusselbegriff des Papiers ist Effektivität. Über weite Strecken werden Punkte benannt, die aus Sicht des Innenministeriums strukturelle Defizite des Asyl- und Einwanderungssystems darstellen, indem sie die Abwicklung der Verfahren verzögern, Abschiebungen erschweren und vermeidbare Kosten verursachen. Konsequent werden außerdem die Diskurse Kriminalität und Einwanderung/Asyl miteinander verflochten. Die Komplexität von Flucht und Migration wird auf ein binäres Schema von Legalität einerseits und kriminellem Menschenschmuggel andererseits reduziert.

Legale versus „illegale“ Routen

Der Plan argumentiert zunächst mit der Existenz und dem weiteren Ausbau „legaler und sicherer Routen“, um sie im weiteren Verlauf konsequent gegen „illegale und unsichere“ Migrationspfade auszuspielen: „Safe and legal routs to the UK for those in need are well established and have helped many thousands of people in need to make the UK their home.“ Als solche legale Routen werden drei Migrationspfade genannt: (1) Resettlement-Programme im Sinne des UNHCR für besonders vulnerable Personen aus Konfliktgebieten oder deren Nachbarländern (etwa 25.000 Personen in Großbritannien aufgenommene in 2015-19, was zu den höchsten Resettlement-Zahlen weltweit gehört), (2) Familienzusammenführungen im Nachgang des Resettlements (29.000 Personen in den letzten fünf Jahren) und (3) die Schaffung eines Zugangs zur britischen Staatsbürgerschaft für Personen und deren Familienangehörige, die von den drakonischen Sicherheitsgesetzen der chinesischen Diktatur in Honkong betroffen sind (geschätzt 320.000 Personen in den kommenden fünf Jahren).

Wichtig in unserem Kontext ist der Ansatz, das Resettlement von Geflüchteten „from regions of conflict“ gegenüber denen zu priorisieren, die sich bereits „in safe European countries“ aufhalten. Der Plan sieht vor, die Kriterien für den Zugang zu den hochgradig selektiven Resettlement-Verfahren auf ein breiteres Spektrum von Verfolgungsgründen „because of […] gender, religion or cultural belief“ auszuweiten und das Alter für Familienzusammenführungen in diesen Fällen von 18 auf 21 Jahre anzuheben.

Dem gegenüber steht die radikale Ungleichbehandlung aller, denen diese „sicheren und legalen Routen“ nicht zur Verfügung stehen. Eine solche legale Route vom europäischen Festland nach Großbritannien aber existierte in den vergangenen Jahren nur für eng umrissene Personengruppen (siehe hier). Mit dem Vollzug des Brexit zum Jahreswechsel 2020/21 bestehen auch diese nicht mehr.

Einführung eines Zweiklassen-Asylsystems

Das Konzept der „legalen und sicheren Routen“ hat damit gravierende Auswirkungen auf alle Migrant_innen, die auf dem Weg nach Großbritannien die EU passieren oder sich innerhalb der EU entschließen, aus welchen Gründen auch immer dorthin weiterzureisen. Der entsprechende Teil des Plans tägt den Titel „Disrupting Criminal Networks and Reforming the Asylum System“ und wird durch das Kapitel „Enforcing Removals“ ergänzt. Die Wortwahl zeigt drastisch, dass die kontinentaleuropäisch-britische Transitmigratation pauschal mit Kriminalität gleichgesetzt und auf erzwungene Rückführung zugespitzt wird. An diesem Punkt setzt eine Doppelstrategie an, die einerseits darauf abzielt, das Geschäftsmodell der „kriminellen Netzwerke“ zu brechen und anderseits die Erfolgsaussichten der Migrant_innen zu minimieren. Faktisch läuft es auf einen pauschalen Ausschluss aller Transitmigrant_innen aus dem regulären britischen Asylverfahren hinaus, gleich ob diese nun die Dienste eines Schmugglers in Anspruch genommen haben ober nicht.

Um diese Linie durchzusetzen, entwickelt der Plan mehrere Maßnahmenpakete:

a) Die Art und Weise, wie eine Person Großbritannien erreicht hat, soll zukünftig nicht nur Einfluss auf das gesamte Asylverfahren haben, sondern auch auf den späteren Aufenthaltsstatus im Fall einer Anerkennung; sie würde damit für lange Zeit die Biographie der betroffenen Person prägen. Alle, die „illegal“ nach Großbritannien eingereist sind, sollen als „unzulässig“ („inadmissible“) aus dem Asylverfahren ausgeschlossen sein und lediglich Zugang zu einem reduzierten Verfahren erhalten. Idealerweise sollen sie umgehend „in den sicheren Drittstaat, von dem sie in See gestochen sind“ („to the safe country of most recent embarkation“) zurückgeführt werden – im Fall der Bootspassagiere also nach Frankreich oder Belgien. Um dies zu ermöglichen, sollen Rückübernahmeabkommen mit „alternativen Drittstaaten“ („alternative safe third countries“) geschlossen werden, wozu u.a. die übrigen EU-Länder gezählt werden. Darüber hinaus soll eine Ergänzung des bestehenden Einwanderungs- und Asylrechts die „Option“ zur „Entwicklung der Kapazitäten für ein Offshore-Asylverfahren“ offenhalten. Ob hierbei, wie im vergangenen Jahr berichtet (siehe hier), an das sogenannte Australische Modell (Unterbringung unter strikter Bewachung an Orten außerhalb des nationalen Rechtsraumes, etwa auf Inseln) gedacht ist, wird in dem Papier nicht weiter ausgeführt.

b) Wer als „unzulässig“ klassifiziert wurde und damit automatisch für eine schnelle Abschiebung vorgesehen ist, soll gesondert untergebracht werden: „[W]e plan to introduce new asylum reception centres to provide basic accomodation and process claims. We will also maintain the facilities to detain people where removal is possible within a reasonable timescale.“ Das Innenministerium orientiert sich dabei an Lagermodellen verschiedener europäischer Staaten, allerdings werden keine spezifischen Vorbilder (wie etwa die deutschen ANKER-Zentren) benannt. Sehr wahrscheinlich stellt die Unterbringung der Bootsmigrant_innen in den Napier Barracks (einer ehemaligen Kaserne in Folkestone, siehe hier) ab Ende 2020 einen Testfall hierfür dar.

c) Können „unzulässige“ Asylsuchende nicht wie vorgesehen abgeschoben werden, was aufgrund fehlender Rückübernahmeabkommen momentan sehr wahrscheinlich ist, so sollen sie in der Regel lediglich einen „temporären Schutzstatus“ („Temporary Protection Status“) von maximal 30 Monaten erhalten. Nach Ablauf dieser Frist soll die „Rückführung“ in ihr Herkunftsland oder einen „sicheren Drittstaat“ erneut geprüft werden. Der neue temporäre Schutzstatus beinhaltet Einschränkungen bezüglich Niederlassung, Familiennachzug und Zugang zu öffentlichen Ressourcen. Dieser minderwertige Status soll auch dann gelten, der Asylantrag im neuen Verfahren positiv beschieden wird.

Schematische Darstellung des geplanten Asylverfahrens bei „unzulässigen“ Anträgen. (Quelle: Home Office, New Plan für Immigration)

Restriktive Reform des regulären Asylsystems

Auch das reguläre Asylsystem soll nach den Vorstellungen des Innenministeriums restriktiver gestaltet werden. Die unter dem Titel „Streamlining Asylum Claims and Appeals“ dargestellten Maßnahmen richten sich in erster Linie gegen Asylanträge sowie Klagen, die im Verlauf eines Verfahrens nachträglich eingereicht, nachträglich ergänzt oder in letzter Minute vorgebracht werden, insbesondere um eine Abschiebung zu verhindern. Entsprechende anwaltliche Interventionen waren im Zusammenhang mit den Bootsmigrant_innen verstärkt in den Fokus der britischen Innenpolitik gerückt. Auch der New Plan for Immigration räumt diesen Fällen breiten Raum ein. Er zielt in erster Linie auf die Etablierung eines „‚One step‘- process“, durch den Asylsuchende alle entscheidungsrelevanten Angaben zwingend zu Beginn ihres Verfahrens machen müssen und alle späteren Ergänzungen nur eine verminderte rechtliche Geltung besitzen. Zahlreiche Detailregelungen sollen die Verfahren entsprechend beschleunigen und rechtliche Interventionen vor allem denn erschweren, wenn sie eine Abschiebung verhindern könnten.

Kriminalisierung der Bootspassagen und Ausweitung des Grenzregimes

Unter der Überschrift „Disrupting Criminal Networks Behind People Smuggling“ skizziert der Plan weitere Maßnahmenpakete, die ebenfalls auf die Bootspassagen zugeschnitten sind, jedoch nicht beim Asylverfahren ansetzen. Zielen die oben skizzierten Maßnahmen auf die Schaffung einer perspektivlosen Situation nach der Ankunft in Großbritannien, setzen diese bei der Reise selbst selbst an:

a) Illegale Einreise bzw. illegaler Aufenthalt sind nach britischen Recht bereits heute strafbar. Der Plan sieht vor, dass bereits der Versuch in Zukunft strafbar sein soll. Zugleich soll das Strafmaß erhöht werden, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen.

b) Das Strafmaß für Menschenschmuggel sowie für Handlungen, die ihm zugerechnet werden, soll drastisch verschärft werden, und zwar gegenüber „anyone willing to risk lives facilitating a migrant’s illegal entry into the UK, such as by piloting a small boat. Each attempt at illegal entry risks life and the penalties for those who facilitate illegal entry should reflect that. We will therefore increase the maximum sentence from 14 years to life imprisonment.“ Das, wie oben gezeigt, fragwürdige Argument des vermeintlichen Lebensschutzes zeigt hier seine volle repressive Wucht, indem bereits das Steuern eines Bootes mit lebenslanger Haft bedroht wird, als handle es sich um Mord. Großbritannien folgt damit einer für andere maritime Routen, etwa in der Ägäis, dokumentierten Praxis, das Steuern eines Bootes mit exorbitanten Strafen zu ahnden.

c) Die Befugnisse der Border Force sollen ausgeweitet werden: So soll die Grenzschutzbehörde zukünftig auch außerhalb der britischen Hoheitsgewässer Schiffe stoppen und umleiten können, wenn der Verdacht einer „illegalen Einreise“ besteht. Und nicht nur dies: „This power also includes the ability to return vessels intercepted, and those on board, to the country from which they started their journey, subject to that country agreeing to the vessel and person’s return.“ Im vergangenen Jahr waren Pläne bekannt geworden, Pushbacks auf See durchzuführen, doch sind die dazu erforderlichen Vereinbarungen mit Frankreich bislang nicht zustande gekommen. Offenbar soll dieses Ziel jedoch weiter verfolgt und die hierzu erforderlichen Kompetenzen der Border Force etabliert werden. Außerdem soll die Border Force ermächtigt werden, Boote im Sinne einer Enteignung zu beschlagnahmen und in britischen Häfen entladene Frachtcontainer zu kontrollieren.

d) Eine weitere Maßnahme richtet sich gegen Migrant_innen, die versuchen, an Bord eines Lastwagens nach Großbritannien zu gelangen. Durch das Clandestine Entrant Civil Penalty Regime können Fahrer_innen und Spediteur_innen bislang mit Strafen von 2.000 Pfund für jede Person belegt werden, die in einem „nicht ausreichend gesicherten“ Fahrzeug gefunden wird. Der Plan sieht eine Erhöhung dieser Geldstrafe vor. Zusätzlich sollen Spediteur_innen künftig bereits für eine unzureichende Sicherung ihrer Fahrzeuge bestraft werden können, und zwar unabhängig davon, ob eine versteckte Person gefunden wird oder nicht. Alternative Überlegungen zielen darauf, jeglichen Fall zu bestrafen, bei dem ein versteckter Mensch entdeckt wird, und zwar auch dann, wenn das Fahrzeug die geforderten Sicherungsstandards erfüllt. Beide Szenarien bedeuten, die Verantwortung für die Durchsetzung des Grenz- und Migratisonsregimes auf die Frachtwirtschaft zu delegieren, oder, wie es im Papier heißt, „to encourage greater numbers of drivers and hauliers to take more responsibility for countering the threat from illegal entry.“ Gleichzeitig sollen Gespräche mit der Industrie über die Anhebung der Sicherungsstandards auf das technisch mögliche Niveau geführt werden. Wie genau ein solches High end-Kontrollystem aussehen wird und wie es sich in das Konzept einer vollständig digitalisierten Grenzkontrolle fügt, wie sie am Ende des Papiers kurz angedeutet wird, bleibt vorläufig offen.

Ein erstes Fazit

Für die Exilierten in Calais, Grande-Synthe und dem gesamten kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum stellt der Plan einen weiteren Entzug von Recht und Lebensperspektive dar. Die in den Vordergrund gerückte Abschiebungsdrohung stellt dabei nur einen Teil des Problems dar, zumal sie ohne bilaterale Abkommen mit Frankreich und anderen Staaten nicht so realisierbar sein wird wie von der britischen Regierung gewünscht. Als Element der Abschreckung wird sie also vielleicht nicht funktionieren. An ihre Stelle tritt dann aber ein Zustand fabrizierter Prekarität, der die betroffenen Menschen zunächst in ein Asylverfahren zweiter Klasse und nach dessen Abschluss in einen Schutztatus minderen Rechts verdrängt. Der Plan schafft damit einen Libus-Zustand permanenter Ungewissheit und verlängerte diese limbische Existenz weit über das Anerkennungsverfahren hinaus. Dies radikalisiert die von Theresa May während ihrer Amtszeit als Innenministerin formulierte Taktik, Migrant_innen durch die Schaffung einer feindseligen Lebensumgebung zu zermürben.

Andere Teile des Plans schreiben das in diversen zwischenstaatlichen Vereinbarungen formulierte Grenzregime fort und passen es an die andauernde Dynamik der Bootspassagen an, indem sie es weiter radikalisieren. Dies gilt für die stärkere Indienstnahme der Speditionen ebenso wie für die drakonische Strafandrohung selbst für Menschen, die wie die Steuerleute eines Booten wenig bis nichts mit Menschenschmugglern zu tun haben.

Aufhorchen lassen sollten nicht zuletzt die Andeutungen in Richtung eines Offshore-Asylverfahrens sowie einer unmittelbaren Rückschiebung von auf See aufgenommenen Bootspassagieren an die kontinentaleuropäische Küste durch die Border Force.

Der Plan wird nun zunächst parlamentarisch beraten werden; darüber hinaus hat ein Konsultationsverfahren begonnen, zu dem sich Expert_innen bzw. Organisation bewerben können. Wir werden den Prozess weiter verfolgen.