Ankunftsland UK (Teil 3): Die kalkulierte Unmenschlichkeit der Napier Barracks
Erbärmliche Lebensbedingungen, Suizidversuche, ein massiver Covid-Ausbruch: die Unterbringung von Asylbewerbern in einer Kaserne bei Folkestone sorgt seit Monaten für Kritik. In diesem Winter hat sie sich drastisch zugespitzt.
Eine enorme, dunkelgraue Rauchwolke hängt über den niedrigen Backsteingebäuden. Der blaue Winterhimmel, von dem sie sich abhebt, unterstreicht ihre Dimensionen noch. Bewohner versammeln sich vor dem brennenden Block, manche machen Aufnahmen mit ihren Telefonen. Später wird einer von ihnen dem Guardian berichten, dass manche große Angst hatten, dass Teile des Dachs nach unten gestürzt seien und die Feuerwehr die Elektrizität ausgeschaltet hätte. Sicherheitspersonal, Mitarbeiter und Manager der Einrichtung hätten sich aus dem Staub gemacht. „Alles ist außer Kontrolle.“
Der Brand in den Napier Barracks am Nachmittag des 29. Januar, bei dem niemand verletzt wurde, ist sinnbildlich. Dahinter steht eine Kette von Extremsituationen und Notfällen, seit das ehemalige Militärlager westlich von Folkestone im September letzten Jahres in Betrieb genommen wurde. Vorübergehend sollten hier mehr als 400 Geflüchtete einen Monat lang untergebracht werden, die per Boot von Calais oder Dunkerque aus den Ärmelkanal überquert hatten. Viele sind Kurden aus Iran oder Irak, andere stammen aus Eritrea oder Sudan. Insgesamt legten 2020 rund achteinhalbtausend Personen diesen Weg zurück.
Aus dem geplanten einen Monat sind inzwischen mehr als vier geworden. In dieser Zeit und im Schatten von Brexit-Tauziehen und Covid-Krise hat sich in den barracks, die dem Innenministerium vom Verteidigungsresort zur Verfügung gestellt und von einem privaten Betreiber namens Clearsprings verwaltet werden, die Lage dramatisch entwickelt.
All dies zeichnet sich bereits ab, als am 22. September die ersten Geflüchteten hierhin gebracht werden. Unter jenen, die hinter dem Zaun zuschauen, steht Bridget Chapman, Sprecherin des Kent Refugee Action Network (KRAN). In einem Video spricht sie von „vielen Fragen, auf die wir keine Antwort bekommen haben: Wieviele Duschen? Wieviele Toiletten? Wie wird nach dem Wohlergehen der Bewohner geschaut? Und wie halten mehr als 400 Leute hier Social Distancing ein?“
Viele derer, die der Wieder-Inbetriebnahme der zuvor leerstehenden und zum Abriss vorgesehen Kaserne beiwohnen, empfinden die Unterbringung der Asylbewerber als Zumutung. Seit immer mehr Menschen in Booten aus Frankreich herüberkommen, schlägt ihnen in England eine Welle von Xenofobie entgegen. Videoaufnahmen zeigen einen warmen Spätsommertag in Folkestone, und die Schaulustigen geben sich empört bis „angeekelt“, dass Asylbewerber in ihrer Stadt aufgenommen werden, wogegen Veteranen vermeintlich auf der Straße leben. Die Kommentare unter entsprechenden Aufnahmen sind noch wesentlich deutlicher und abschätziger.
Dass den boat people an ihrem Zielort soviel Ablehnung entgegenschlägt, hat mit dem politischen Kontext zu tun. Während der Brexit hakt und stagniert, werfen Scharfmacher wie Nigel Farage der Tory-Regierung vor, bei einem seiner essentiellen Punkte zu versagen: frei über die eigenen Grenzen zu verfügen. Im Home Office (Innenministerium) versucht Ministerin Priti Patel die Angriffe zu parieren, indem sie, einen Monat vor der Eröffnung der Barracken, einen Clandestine Channel Threat Commander ernennt um den Kanal für Migrantenboote „unpassierbar“ zu machen.
Das Wort von der ‚Invasion‘ macht die Runde. Nicht selten hört man in Kent, an dessen Küste beinahe alle Boote ankommen, diesen Flüchtlingen gelänge nun, was selbst die Nazis nicht geschafft hätten. Vor diesem Hintergrund ziehen zunehmend Einzelpersonen und kleine Gruppen los, um oberhalb der berühmten White Cliffs zu patrouillieren. Als KRAN im Oktober ein „Willkommens-Treffen“ für die 415 Männer organisiert, die nun die Kaserne bewohnen, sind dort nicht nur 200 Nachbarn und Interessierte anwesend, sondern auch Nationalisten, die gegen „grenzenloses Britannien“ und Unterbringung von Asylbewerbern auf Kosten der Steuerzahler protestierten. Ihre Forderung auf einer Union Jack-Fahne: „Stoppt die illegale Invasion!“
In den Barracken wird die Lage unterdessen in kürzester Zeit dramatisch. An einem Abend Mitte November werden Ambulanz und Polizei wegen eines Notfalls gerufen. Einer der Bewohner hat versucht Suizid zu begehen, indem er sich mit „einem scharfen Gegenstand“ in den Hals stach, wie ein anderer anonym The Independent berichtet. Die Sanitäter seien „in letzter Minute“ eingetroffen. „Das geschah wegen des psychologischen Drucks und wegen der Verzögerung in unseren Asylverfahren“, so der Mann weiter. „Ich war nicht überrascht. Wir dachten, dass er sich vielleicht umbringen würde. Mein Freund hat das schon vorher versucht. Ich denke, dass es in einem anderen Fall wieder passieren kann.“
Die Warnung verhallt, obwohl sie zutreffend ist. Kurz nach dem Brand berichtet uns Bridget Chapman, die die Baracken mehrfach besucht hat, von „sechs Suizid-Versuchen“ und einer höheren Dunkelziffer. Die Situation der Asylbewerber dort sei „von Anfang an schrecklich“ gewesen. „Die Unterbringung mit ihrem Stacheldrahtzaun wirkt retraumatisierend. Viele Bewohner wurden in militärischen Einrichtungen gefoltert. Die Gebäude sind in schlechtem Zustand. Den Bewohnern sagte man, sie sollten nicht mit Journalisten reden, weil das ihr Verfahren beeinflussen könnte.“
Im Herbst schlagen Asyl-Anwälte wegen den Bedingungen in den Baracken Alarm. Bis zu 15 Personen seien in einem Raum untergebracht, ihre Betten durch Tücher voneinander getrennt. „Verheerend“ zitiert The Independent Paul Turner. Zwischen den Betten lägen „nicht mehr als zwei oder drei Fuß“ (60 bis 90 Zentimeter). Die Bewohner einer Baracke teilten zwei Toiletten und einen Duschblock, der einmal wöchentlich gereinigt werde. Die Einrichtung besteht aus 16 Einheiten, wovon drei Einzelzimmer haben und die anderen von bis zu 28 Personen bewohnt werden.
Ende November schreiben mehrere Gesundheitsorganisationen, darunter Médecins du monde, einen Brief an Innenministerin Priti Patel. Sie fordern Napier Barracks sowie die kleineren Penally barracks, ein ehemaliges Ausbildungslager im walisischen Pembrokeshire, in dem ebenfalls Asylbewerber untergebracht sind, schnellstmöglich zu schließen. Der Zugang zu medizinischer Versorgung sei mangelhaft und die Bedingungen nicht mit den Covid-Regeln vereinbar. Die ortskundige Bridget Chapman schätzt: „Mit 150 Personen könnte man hier ausreichend Abstand einhalten. Aber nicht mit über 400.“
Das Ministerium aber bewegt sich nicht. Es hält fest an den Baracken, und an einer Rhetorik, die alle Mißstände konsequent abstreitet. In einem Guardian-Bericht wird Immigrationsminister Chris Philp zitiert: „Die Asylbewerber sind unter sicheren, Covid- konformen Bedingungen untergebracht, entsprechend der Gesetze und social distancing-Anforderungen. Wir nehmen das Wohlergehen der Asylbewerber extrem ernst und haben ihnen Hilfestellung bezüglich Selbst- Isolation, social distancing und Hygiene geboten.“
Diese Haltung erklärt sich aus einem Ansatz aus der Zeit, als die ehemalige Premierministerin Theresa May das Ministerium leitete, und der unter dem Schlagwort „hostile environment“ zum politischen Kampfbegriff wurde. „Das Ziel ist es, hier in Großbritannien eine wirklich feindliche Umgebung für illegale Einwanderer zu schaffen“, kündigte May 2012 an. Am Ziel der Abschreckung von Migranten hat sich seither nichts geändert – im Gegenteil: Sie Entwicklungen in den Napier Barracks sind eine Zuspitzung des Prinzips, sie sind eine ‚feindliche Umgebung‘ in Reinform.
Dass man dabei als Adressaten nicht nur auf die ungewollten Einwanderer schaut, zeigt sich in diesen Tagen: britische Medien berichten kurz nach dem Brand von einem internen Dokument des Home Office, wonach Asylbewerber „nicht analog“ zu britischen Bürgern und Menschen mit permanentem Aufenthaltstitel seien, die staatliche Wohlfahrt bräuchten. Gerechtfertigt sei ihre „weniger großzügige“ Unterstützung durch die notwendige Kontrolle der Einwanderung. Jede Zuwendung über das Nötigste hinaus könnte das öffentliche Vertrauen in das Asylsystem untergraben.
In Teilen der britischen Öffentlichkeit ist man über diesen Ansatz durchaus empört. Im Winter mehren sich die Stimmen derer, die fordern, das Militärlager zu schließen: nicht allein NGOs oder medizinische Fachleute, sondern auch Damian Collins, der konservative Abgeordnete des Distrikts Folkestone and Hythe, der sich Mitte Januar zu Wort meldet: Er bezweifelt, dass die Unterbringung so vieler Menschen in den Baracken angemessen sei. „Die beste Lösung wäre, wenn die Anträge der Asylbewerber abgehandelt und diese Unterkunft geschlossen würde“, zitiert die BBC Collins.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Lage in den Baracken drastisch zugespitzt: Dutzende Bewohner haben vor den Toren gegen die Lebensbedingungen und schlechten hygienischen Verhältnisse protestiert, drinnen sind zahlreiche in einen Hungerstreik getreten. Die ersten Covid-Fälle werden gemeldet, weshalb mehrere Männer nun aus Furcht vor einer Ansteckung draußen schlafen, teils bei Minusgraden. Ein Foto im Guardian zeigt fünf dick eingepackte Gestalten, die sich in Decken gehüllt unter einem schmalen Vorsprung gegen eine Wand kauern. Der Boden sieht klamm bis feucht aus. Ein anderer Artikel berichtet von zwei Selbstmordversuchen innerhalb einer Woche.
Im Folgenden geschieht genau das, wovor Gesundheitsdienste, Anwälte und NGO seit Monaten gewarnt haben: Das Virus breitet sich im Lager aus. Ende Januar sind mehr als 100 Personen infiziert. In einem Kommentar begründet Chris Philp, der Einwanderungsminister, diese Entwicklung damit, dass die Asylbewerber sich geweigert hätten, untereinaner Abstand zu bewahren. Teile der Gesellschaft glauben, die sogenannte ‚britische Variante‘ sei in Wirklichkeit von Migranten in Land gebracht worden.
In einem offenen Brief an die dear all British citizens erklären 200 Bewohner: „Während wir mental immer anfälliger werden und körperlich krank durch den Covid-Ausbruch, ignorieren uns Innenministerin Priti Patel und Immigrationsminister Chris Philp absichtlich und probieren ihr Möglichstes, das Desaster zu verschleiern, das sich in diesem Armeelager abspielt.“ Duschen und Toiletten seien oft kaputt und unhygienisch, alle Männer äßen gemeinsam in der Kantine. „Wir teilen und atmen alle in denselben Raum, und es gibt keine Art wie wir social distancing praktizieren können. Das Home Office behauptet, es sei die Schuld der Asylbewerber, dass wir die Regeln nicht befolgen und kein social distancing praktizieren. Wie ist es möglich den Richtlinien zu folgen, wenn man diese Fakten kennt? Die Frage ist, warum das Home Office 400 Personen in einem Ort unterbringt?“
Innerhalb weniger Stunden unterzeichnen mehr als 7.500 Personen eine Petition, die fordert die Napier barracks zu schließen. Ende Januar reagiert das Innenministerium: Etwa 100 Bewohner werden in Hotels transferiert, wo sie sich in Isolation begeben können. Die verbliebenen 315 hoffen, dass auch sie bald an der Reihe sind. Doch am 29. Januar werden sie in Briefen darüber informiert, dass sie stattdessen in kleine bubbles eingeteilt würden und diese in den nächsten zehn Tagen nicht verlassen dürfen. Am gleichen Nachmittag bricht das Feuer aus. Die Polizei nimmt 14 Bewohner wegen des Verdachts auf Brandstiftung fest.
Wenige Tage später werden in den Medien anonyme Zeugnisse aus der Kaserne bekannt: Auch zwei Tage nach dem Brand seien Elektrizität und Trinkwasser weiter abgeschaltet. „Nachts ist es extrem dunkel und kalt. Wir können nicht duschen und müssen Wasser aus dem Kran auf der Toilette trinken. Es gibt Kranke hier, und auch sie müssen ohne Heizung schlafen.“
Priti Patel betont weiter, das Home Office komme seinen gesetzlichen Verpflichtungen zur Unterbringung von Asylbewerbern nach. Die Schäden würden repariert, das Gelände sei sicher. Empört ist die Ministerin über etwas anderes: „Der Schaden und die Zerstörung in der Kaserne sind nicht nur entsetzlich, sondern auch zutiefst beleidigend für die Steuerzahler dieses Landes, die diese Unterkunft zur Verfügung stellen, während Asylanträge bearbeitet werden.“ Zu sagen, dass dieser Ort, der einst tapfere Soldaten und militärisches Personal beherbergte, „nicht gut genug für diese Individuen“ sei, nennt Patel „eine Beleidigung“.
Unterdessen ziehen britische Autoritäten immer härtere Saiten auf, wenn es um die Lage in den Barracks geht. Dies zeigt sich am Fall des Fotografen Andy Aitchison, der am Tag vor dem Brand eine kurze Protestaktion einer Handvoll Aktivisten fotografiert. In weißen Schutzanzügen kommen sie am Morgen vor das stacheldrahtgesäumteTor der Barracks, verschütten eine Mischung aus roter Speisefarbe, Wasser und Shampoo und posieren mit Plakaten, auf denen steht: „Protect Human Rights Close Napier Now!!! Priti Patel There will be blood on your hands! #Solidarity with Napier.“ Aitchison fotografiert und weist sich gegenüber der Polizisten als Journalist aus. Wenig später erscheinen seine Bilder in mehreren Medien.
Am gleichen Nachmittag bekommt er zu Hause Besuch: Polizisten konfiszieren seine Speicherkarte und sein Telefon, durchsuchen sein Haus und verhaften Aitchison wegen vermeintlicher Sachbeschädigung. Dort hält man ihn sieben Stunden lang fest, verhört ihn kurz und lässt ihn dann auf Kaution bis zum 22. Februar frei. Zu deren Auflagen zählt, dass er sich der Kaserne nicht nähern darf, weshalb er nicht anwesend ist, um am folgenden Tag über den Brand zu berichten. Acht Tage später wird das Verfahren gegen Aitchison eingestellt.
Anfang Februar erscheint auf dem Twitter-Account der Menschenrechts- Organisation Freedom From Torture, die ebenfalls die Schließung der Baracken fordert, ein Offener Brief. Darin wendet sich ein ehemaliger Bewohner namens Omar unter dem Titel „Close this hell & let us live“ an Innenministerin Patel. „Im Namen aller Asylbewerber“ berichtet er von der „Machtlosigkeit, diese elende Situation zu ändern“. Die Situation im Camp sei ein psychologischer Notfall, und die geistige Gesundheit seiner Bewohner verschlechtere sich in raschem Tempo.
Omar spricht von den Traumata der Vergangenheit, die durch die Lebensbedingungen als Flashbacks reaktiviert werden. „Aber dieses Mal fürchten wir auch wegen des Coronavirus um unser Leben. Fragen Sie sich selbst, Priti Patel: Würden Sie während einer globalen Pandemie eine Toilette mit 30 anderen teilen, wenn einige Leute hinter sich nicht saubermachen? Warum nehmen sie Covid-19 in den Baracken nicht ernst? Sehen Sie uns als minderwertige Menschen an? Es ist nicht richtig, uns unser Recht auf Abstandhalten zu nehmen. Es ist nicht richtig, uns Wärme und Elektrizität zu nehmen.“
Solidarität erfahren die Asylbewerber von ihren Schicksalsgenossen in Wales. Bei einer Kundgebung vor ihrer eigenen Unterkunft präsentieren sie auf Pappschildern Slogans wie „Ein Geflüchteter hat ein Recht, in einem Zuhause zu wohnen“, „Wir wollen bessere Bedingungen“ oder „Rettet uns vor Covid 19“. Außerdem leiten sie Geld, das eine lokale Hilfsorganisation per Spendenaktion für sie gesammelt hat, an die Bewohner der Napier Barracks weiter, damit sie sich neue Telefon-Auflader kaufen können. Die Regionalzeitung Western Telegraph zitiert einen Mann: „Wir müssen aufstehen und ihnen helfen, mit was auch immer wir können.“
(Die Teile 1 und 2 der Artikelreihe „Ankunftsland UK“ behandelten am 24. September 2020 die Situation in Dover und am 21. Oktober 2020 die Initiative Channel Rescue)