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Channel crossings & UK

2020: Das Jahr der Bootspassagen

Im Jahr 2020 passierten sehr viel mehr Migrant_innen den Ärmelkanal in Booten als jemals zuvor. Laut verschiedenen britischen Quellen waren es über 8.400, vielleicht über 8.700 Personen und mehr als 500 Boote – mehr als viermal so viele wie im Vorjahr und ein Vielfaches mehr als in früheren Zeiten. Während dies nur einen Bruchteil des Migrationsgeschehens nach Großbritannien ausmacht, sind die Boote zur vorherrschenden und effizientesten Migrationstechnik im Calais-Kontext geworden. Aber trotz ihrer hohen Erfolgsausicht hat diese Migrationstechnik Schattenseiten.

Offizielle Zahlen britischer Behörden über die Channel crossings im Gesamtjahr 2020 liegen bislang nicht vor. Doch berichtete der Sender BBC am 31. Dezember 2020, dass „mindestens 8.400“ Migrant_innen den Kanal per Boot passiert hätten. Das rechte Portal Migration Watch errechnete auf der Basis amtlicher Statistiken der ersten beiden Quartale und Medienberichten der folgenden Quartale eine Gesamtzahl von 8.713 Menschen. Zum Vergleich: Je nach nach Quelle waren es in 2019 zwischen 1.800 und 2.000 Personen gewesen, in 2018 etwa 300.

Französische Statistiken bestätigen diese Tendenz: So teilte die Préfecture Maritime de la Manche et de la Mer du Nord am 8. Januar 2021 mit, dass 2020 insgesamt „868 Ereignisse“, d.h. sowohl gelungene als auch vereitelte Bootspassagen, registriet worden seien, „an denen 9. 551 Migranten beteiligt waren“; bei mehrfachen Versuchen seien allerdings Personen doppelt gezählt worden. Im Jahr 2019 hatte die Behörde 203 versuchte oder gelungene Überfahrten von 2. 294 Migrant_innen registriert, was bereits das Vierfahre des Vorjahres gewesen war (siehe InfoMigrants). Die Zahl der Todesfälle auf See lag in 2020 bei neun gegenüber vier in 2019 und null in 2018 (siehe hier).

Die Dynamik der Kanalroute hatte sich nach einem winterbedingten Rückgang bereits im Frühjahr 2020 abgezeichnet und im Laufe des Sommers zu immer überdrehteren Reaktionen der britischen Innenpolitik geführt (siehe hier, hier, hier, hier und hier), aber auch neue solidarische Initiativen wie Channel rescue entstehen lassen (siehe hier). Nahezu monatlich meldeten britische Medien neue Monats- und Tagesrekorde, mit einem Maximum von knapp 2.000 erfolgreichen Passagen im Monat September bzw. 416 Personen in 28 Booten am 2. September.

Die Gründe für diese Dynamik sind vielfältig und dürften zu einem guten Teil in der hohen Erfolgsaussicht von zumindest phasenweise etwa 70 Prozent liegen. Gegenüber InfoMigrants wies François Guennoc von der Calaiser Auberge des migrants rückblickend auf ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren hin: „Die sehr guten Wetterbedingungen zwischen Anfang März und August, der Anstieg der Erfolgsquote, die Verbesserung der Methoden der Schmuggler, insbesondere mit mehrfachen Abfahrten über einen Küstenabschnitt von fast 200 km hinweg, die Rentabilität dieser Praktiken sowie die zunehmenden Schwierigkeiten einer Passage per Lastwagen aufgrund der Perfektionierung des Grenzüberwachungssystems.“ Andere Erklärungsversuche verweisen außerdem auf den Rückgang des Frachtverkehrs infolge der ersten Welle der Corona-Pandemie als treibenden Faktor.

Unterdessen geben journalistische Recherchen neue Einblicke in die Geschäftspraxis kommerzieller Schmuggler. Ausgehend von der Havarie eines Bootes, die am 27. Oktober 2020 sieben Menschen das Leben kostete, darunter einer fünfköpfigen kurdischen Familie (siehe hier und hier), berichtete der Guardian am 19. Dezember über die Erfahrungen zweier Männer, die mit dem gleichen Schiff unterwegs gewesen waren, während der Havarie einen Rettungsversuch für die eingeschlossenen Menschen unternommen hatten und danach in die nordfranzösischen Camps zurückgekehrt waren. Hochgradig traumatisiert, waren sie später in einem anderen Boot nach Großbritannien gelangt und befinden sich inzwischen im Asylverfahren.

Einer der beiden erklärte, die Schmuggler hätten ihnen bei diesem zweiten Versuch eine Passage in einem Lastwagen versprochen. Als die Schmuggler die Gruppe für die Weiterreise zusammenbrachten, seien sie jedoch an die Küste gebracht und gezwungen worden, in ein Boot zu steigen. „If a smuggler from the Jungle tells you to do something and you don’t do it you will get killed and nobody will know. We felt scared and didn’t want to get in the boat. The smugglers carry guns and knives and they forced us to get in. One of the smugglers said: ‘We have spent money on this boat. Going back is not an option. You have to get in.’“, zitiert der Guardian einen der beiden.

Dieser Art von Gewalt wurde in der Vergangenheit mehrfach benannt und teils zur Legimation eines schärferen Grenzregimes instrumentalisiert, allerdings selten durch konkrete Aussagen wie diese belegt. Eine Untersuchung der Telekomunikation der Ertrunkenen ergab darüber hinaus, dass wohl auch die Familie einen Lastwagen vorgezogen hätte; einen hierfür verlangten Aufpreis hätten sie, so der Guardian, jedoch nicht finanzieren können.

Im Dezember 2020 sank die Zahl der Bootspassagen mit etwas mehr als 200 Personen zum ersten Mal unter den Wert des Vorjahres. Möglicherweise steht dieser Rückgang im Zusammenhang mit einer Erhöhung der Kontrolldichte im Küstengebiet von Dunkerque über Calais bis Boulogne-sur-Mer, von dem aus die Boote in aller Regel ablegen und das hierfür günstige topographische Voraussetzungen bietet (siehe hier). Ein weiterer Grund könnte die Rückverlagerung von Migrationsversuchen auf Verstecke in Lastwagen sein, nachdem sich in Erwartung eines No deal-Brexit ab Oktober/November 2020 vermehrt Staus an den Zufahrten zum Calaiser Fährhafen und zum Kanaltunnel gebildet hatten (siehe hier). Allerdings dürfte erst die weitere Entwicklung zeigen, ob sich hier eine tatsächliche Veränderung andeutet oder der Rückgang lediglich dem Wetter oder einer vorübergehenden Sättigung des Marktes geschuldet war.

Unterdessen gelangten am 2. Januar die ersten Channel crossers des Jahres 2021 nach Großbritannien. Es waren rund zehn Menschen, die Medienberichten zufolge von der Border Force auf See aufgenommen und nach Dover gebracht worden sind. Auch am Neujahrstag hatte es bereits einen Passageversuch gegben, doch hatten die französischen Behörden ihn vor dem Erreichen der Grenze unterbunden.