Mehrere hundert Menschen, die vor den Angriffen des russischen Präsidenten und mutmaßlichen Kriegsverbrechers Wladimir Putin aus der Ukraine geflüchtet waren, sind inzwischen in Calais gestrandet. Diese Folge der britischen Visumpolitik rückte Calais wieder einmal in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit, was zuletzt nach der tödlichen Havarie eines Schlauchbootes am 24. November 2021 der Fall war. Die Situation der Ukrainer_innen veranlasste den französischen Innenminister Gérald Darmanin zu einem Statement, in dem er der britischen Seite Unmenschlichkeit vorwarf. Und die Regierung von Boris Johnson sah sich im Parlament und in der Öffentlichkeit mit heftigen Vorwürfen konfrontiert. Währenddessen beteiligen sich die bekannten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Calais an der Hilfe für die Geflüchteten aus der Ukraine, prangern zugleich aber die eklatante Ungleichbehandlung von Geflüchteten aus europäischen und nichteuropäischen Kriegs- und Krisengebieten an (siehe hier sowie die gemeinsame Erklärung der Organisationen). Durch die Grenze blockiert, aber durch die breite öffentliche Empörung über den russischen Überfall in gewissem Grade geschützt, werden die Ukrainer_innen unfreiwillig zum Objekt einer Selbstinszenierung der für die humanitäre Katastrophe in Calais hauptverantwortlichen Akteure als solidarische Flüchtlingshelfer_innen. Hier ein Überblick über die weitere Entwicklung und einige Fragen, die sich nun stellen.
Bekanntlich betreibt die konservative Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, seit ihrem Amtsantritt 2008 eine restriktive Politik gegenüber den Exilierten und machte Überlegungen der 2000er-Jahre zunichte, eine menschenwürdige Unterkunft für Geflüchtete in Calais zu schaffen. Dass eine der ältesten lokalen Organisationen der Geflüchtetenhilfe bis heute l’Auberge des migrants (Herberge der Migrant_innen) heißt, hat hier seinen Ursprung. Bouchart steht für eine Politik der gezielten Verdrängung in periphere Camps, in denen im Zweitagesrhythmus Zelte, Schlafsäcke und Decken beschlagnahmt werden. Auf ihre Initiative hin ist das Verteilen von Trinkwasser, Nahrung und Hilfsgütern durch unabhängige Organisationen seit anderthalb Jahren in Teilen von Calais verboten. Wer dennoch verteilt, wird mit Strafzetteln überzogen. Zwar führen andere Organisationen im staatlichen Auftrag Verteilungen durch und bieten rudimentäre Hilfen an, doch sind diese stets zu gering bemessen, finden selektiv statt und stellen eine Art humanitäre Seite der Elendsverwaltung dar. In diesem Kontext repräsentiert die Bürgermeisterin das Gegenteil einer solidarischen Haltung gegenüber Geflüchteten.
Die Dynamik der ersten Kriegswochen scheint die Situation auf den Kopf zu stellen. Einen Überblick vermittelt das Portal InfoMigrants, das die Entwicklung seit Jahren kompetent und kritisch beobachtet: „Seit Beginn des Krieges […] kamen mehr als 600 Ukrainer_innen in Calais an, in der Hoffnung, eine Fähre nach Großbritannien zu besteigen. Die meisten von ihnen mieten Hotelzimmer zu Vorzugspreisen. Für diejenigen, die sich das nicht leisten können, hat die Stadtverwaltung die Jugendherberge der Stadt in eine Notunterkunft umgewandelt. Rund 140 Personen wurden dort in den letzten Tagen untergebracht, bis sie ein Visum für England erhielten. Rund 750 Unterkünfte wurden den Ukrainern auch von den staatlichen Gebietskörperschaften zur Verfügung gestellt. Die Bürgermeisterin Natacha Bouchart bemühte sich sehr, den Vertriebenen einen Empfang zu bieten. Einige kamen sogar in den Genuss eines Essens in einer von der Bürgermeisterin reservierten Brasserie in Calais und erhielten eine Tasche mit Touristenbroschüren der Stadt. Natacha Bouchart setzte sich auch bei den staatlichen Stellen und dem britischen Konsulat dafür ein, dass sie schnell eine Aufenthaltsgenehmigung jenseits des Ärmelkanals erhielten. ‚In meinem Kommunalverbund werden keine Flüchtlinge abgewiesen‘, sagte sie in ihrem Büro, von der Presse angesprochen, als sie eine ukrainische Familie empfing.
Wie die Lokalzeitung La voix du Nord berichtet, wurden die in der Jugendherberge untergebrachten Geflüchteten am 9. März verlegt: „Die Reise der vor dem Krieg fliehenden ukrainischen Familien geht weiter. In einem Chaos und vor den Kameras von etwa 30 englischen, französischen oder auch türkischen Journalisten verließen sie am Mittwoch das Centre européen de séjour (Jugendherberge) in Calais. Dort waren seit einer Woche Dutzende Ukrainer untergebracht, die von der Border Force am Hafen von Calais oder am Kanaltunnel abgewiesen wurden, weil sie kein Visum hatten. Da immer mehr Menschen in der Herberge ankamen, wurden die Familien am Mittwoch ausquartiert und in Bussen in die Großstadt Lille gebracht. […] Das britische Innenministerium bestätigte über seine Pressestelle, dass in Lille ein Zentrum für die Beantragung eines befristeten Visums eröffnet wird, damit die Ukrainer nicht zu den Botschaften in Paris oder Brüssel weiterreisen müssen. Es wird bereits am Donnerstag [10. März 2022] geöffnet sein. Das britische Ministerium möchte den Standort dieses Zentrums nicht bekannt geben […]. Es wird nur ‚auf Empfehlung der britischen Grenzpolizisten, die den Menschen in der Region vor Ort Hilfe leisten‘, zugänglich sein. Die britischen Regierungsstellen werden für alle Personen, die kein Auto haben oder nicht in der Lage sind, sich allein fortzubewegen, einen kostenlosen Transport von Calais nach Lille anbieten. Sofern weitere Ukrainer von den Briten in Calais zurückgewiesen werden, wird das Centre européen de séjour [Jugendherberge] für sie geöffnet bleiben […]. Außerdem sind die britischen Einwanderungsbeamten weiterhin im Eingangsgebäude des Hafens von Calais anwesend, um Informationen über Ankünfte zu geben.“ Inzischen melden Nachrichtenagenturen, dass in Calais festsitzende Ukrainer_innen ab dem heutighen 11. März „bei der örtlichen Präfektur ein Visum beantragen können. Die Struktur wurde von den britischen Behörden nach Beschwerden über die Behandlung von gestrandeten Flüchtlingen rasch eingerichtet.“
Ein anderer früherer Bürgermeister der Region, der heutige EU-Parlamentarier Damien Careme, kommentierte die Entwicklung mit dem Foto einer Betonbarriere, die zivilgesellschaftliche Organisationen daran hindern soll, Camps in seiner Heimatgemeinde Grande-Synthe bei Dunkerque anzufahren: „Auch die dort anwesenden Afghanen, Sudanesen und Eritreer, darunter viele Frauen und Kinder, sind auf der Flucht vor dem Krieg. Worin besteht ihr Unrecht? Dass sie nicht weiß sind? Dass sie keine Christen oder Orthodoxen sind? Diese Unmenschlichkeit und dieser Rassismus empören mich!“ Die Betonbarriere war zur gleichen Zeit errichtet worden, als in Calais die Jugendherberge für ukrainische Familien geöffnet, im benachbarten Marck aber das Gelände des sudanesischen Camps Old Lidl umgepflügt wurde (siehe hier).
Die Ungleichbehandlung europäischer und außereuropäischer Geflüchteter erweist sich jedeoch nicht nur als eine Frage moralischer Empörung und ein Beuspiel für institutionellen Rassismus. Sie ist vielmehr eine zutiefst politische Frage, denn sie zeigt, dass die kommunalen und staatlichen Akteur_innen auf beiden Seiten des Kanals in der Lage sind, binnen weniger Tage ein System der Unterbringung und Versorgung einer großen Zahl von Geflüchteten bereitzustellen, ein Klima der Aufnahmebereitschaft zu vermitteln sowie ein administratives Verfahren einzurichten, das zumindest einem Teil der Betroffenen einen sicheren und legalen Weg nach Großbritannien eröffnet. Für l’Auberge des Migrants ist dies darüber hinaus der Ansatzpunkt einer juristischen Intervention gegen die offenkundige Diskriminierung der nichtukrainischen Geflüchteten. Eine entsprechende Klage hat der Präsident der Organisation bereits angekündigt.
Ähnliche administrative Verfahren für die legale Weiterreise eines Teils der Geflüchteten aus Nordfrankreich nach Großbritannien hat es in der Vergangenheit bereits zweimal gegeben: Ende 2002 nach der Schließung eines zum internationalen Skandal gewordenen offiziellen Lagers in der Calaiser Nachbargemeinde Sangatte und Ende 2016 nach der Räumung des zu einer Siedlung mit zeitweise mehr als 10.000 Bewohner_innen angewachsenen Jungle von Calais. Im letzteren Fall war die Schaffung eines legalen Weges nach Großbritannien jedoch auf eine strikt begrenzte Gruppe minderjähriger Geflüchteter mit Angehörigen in Großbritannien beschränkt, sodass selbst ein Teil der Minderjährigen ausgeschlossen blieb. Auch im jetzigen Fall scheint es auf ein solches selektives Verfahren hinauszulaufen, von dem ein Teil der ukrainischen Geflüchteten dann am Ende nicht profitieren würde.