Kategorien
Channel crossings & UK

Neuer Ruanda-Deal: Krise der Rechtsstaatlichkeit

Trotz des einstimmigen Urteils des Obersten Gerichtshof vom 15. November 2023, welches die Abschiebung von Asylbewerber*innen nach Ruanda als rechtswidrig erklärte, stimmte das britische Unterhaus am 15. Dezember 2023 für ein Gesetzesvorhaben der Regierung, welches den Ruanda-Deal zu retten versucht und dabei das Urteil des Obersten Gerichtshof umgeht.

Urteil des Obersten Gerichtshof

Das Vereinigte Königreich und Ruanda vereinbarten im April 2022 eine Partnerschaft für Migration und wirtschaftliche Entwicklung. Sie umfasste eine fünfjährige „Asylpartnerschaftsvereinbarung“, die in einer unverbindlichen Absichtserklärung festgelegt wurde. Ziel der Maßnahmen sind die „Abschreckung“ von Menschen, die versuchen auf „illegalen, gefährlichen oder unnötigen Wegen“ in das Vereinigte Königreich zu kommen, etwa mit Schlauchbooten über den Ärmelkanal (mehr Informationen hier).

Am 15. November 2023 entschieden fünf Richter des Obersten Gerichtshofs, dass die geplante Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda derzeit rechtswidrig sei und stimmte somit im Wesentlichen mit dem Berufungsgericht darin überein. Der Oberste Gerichtshofs begründete sein Urteil in erster Linie mit der Gefahr vor Zurückweisungen von nach Ruanda abgeschobenen Personen in ihr Herkunftsland (Refoulement) und der Einhaltung des EU-Rechts.

Insbesondere das Prinzip der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement) ist von Wichtigkeit und ein Grundprinzip des Völkerrechts. So sind Asylbewerber*innen durch mehrere internationale Verträge, die das Vereinigte Königreich ratifiziert hat, vor Refoulements geschützt. Dieser Schutz ist unter anderem in Artikel 33(1) des Abkommens der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 und dem dazugehörigen Protokoll von 1967 und in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. In seinem Urteil machte der Oberste Gerichtshof deutlich, dass der Ruanda-Deal das Prinzip des Non-Refoulement nicht garantiere und es „stichhaltige Gründe für die Annahme gebe, dass Asylbewerbern bei einer Abschiebung nach Ruanda eine tatsächliche Gefahr der Misshandlung durch Zurückweisung in ihr Herkunftsland drohe“. Weitere Mängel im ruandischen Asylsystem sah das Oberste Gericht auch in der Ablehnung von Anträgen ohne Angabe von Gründen und der „überraschend hohen“ Ablehnungsquote von 100% für Anträge von Bürgern aus Afghanistan, Syrien und Jemen zwischen 2020 und 2022.

Überarbeitung des „Memorandum of Understanding“

Die Regierung nahm sich das Urteil des Obersten Gerichtshof jedoch nicht zum Anlass, seine Verpflichtung bezüglich der Allgemeinen Menschenrechte zu hinterfragen und das Abkommen auf Eis zu legen, sondern schloss stattdessen einen neuen Vertrag, um die Regelungen durch verschiedene Anpassungen „rechtmäßig“ zu machen. Somit wurde der bisherige Ruanda-Deal, der eine unverbindliche Absichtserklärung war, in einen formellen Vertrag umgewandelt, der vom britischen Innenminister und dem ruandischen Außenminister unterzeichnet wurde. Der neue Vertrag durchlief die zweite Lesung im Unterhaus am 12. Dezember 2024 und wird zu einem Termin im neuen Jahr in die Ausschussphase gehen, bevor er dann an das Oberhaus weitergeleitet wird und frühestens im Januar 2024 in Kraft gesetzt werden könnte.

Unterschiede zum bisherigen Ruanda-Deal

Anders als die ursprüngliche Absichtserklärung ist der Vertrag nun rechtsverbindlich. Die Regierung hält dies für wichtig, da es eine solidere Garantie dafür bieten solle, dass nach Ruanda deportierte Personen nicht wieder aus Ruanda abgeschoben werden können, es sei denn, sie werden in das Vereinigte Königreich zurückgeschickt. Dies war im Rahmen des ursprünglichen Abkommens nicht der Fall und soll somit auf die Bedenken des Obersten Gerichtshof bezüglich der Refoulements eingehen. In Artikel 10(4) der Vereinbarung war vorgesehen, dass Personen, denen in Ruanda das Asyl verweigert wird, letztendlich aus dem Land ausgewiesen werden können. Artikel 1 (3a) des neuen Vertrags schließt dies ausdrücklich aus und sieht vor, dass jeder, der nicht die Voraussetzungen für Asyl erfüllt, dennoch eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhält. Auch wenn dies aus rechtlicher Perspektive nach einer Verbesserung klingen mag, bleibt zu betonen, dass es um Menschen geht, die gegen ihren Willen in ein Land deportiert werden, mit dem sie keinerlei Affinitäten und Verbindungen haben. Asylbewerber*innen könnten zwar weiterhin ihre Abschiebung nach Ruanda aufgrund ihrer persönlichen Umstände anfechten, die Minister könnten jedoch Dringlichkeitsanordnungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ignorieren, um zum Beispiel einen Flug nach Ruanda auszusetzen, während ein individueller Rechtsfall verhandelt wird.

Artikel 2(1) des neuen Vertrags beschließt, dass „(j)eder Entscheidungsträger (…) die Republik Ruanda eindeutig als sicheres Land einstufen“ muss und weist somit britische Richter*innen und Gerichte an, einige Abschnitte des britischen Menschenrechtsgesetzes zu ignorieren, ebenso internationale Rechtsdokumente wie die Genfer Flüchtlingskonvention. Damit legt die Regierung nach britischen Recht fest, dass Ruanda ein sicheres Land ist, und umgeht das Urteil des Obersten Gerichtshof sowie Berichten und Bedenken von verschiedensten Menschenrechtsorganisationen und dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, der sich entschieden gegen das Abkommen aussprach, da es gegen internationales Recht verstoße (mehr hier).

Des Weiteren sieht der Vertrag neue Institutionen vor, die über Asylanträge und Berufungen von nach Ruanda abgeschobenen Personen entscheiden. Sowohl die Entscheidungsträger*innen als auch die Richter*innen sind verpflichtet, unabhängige Sachverständige zu konsultieren, und einige Richter*innen werden nicht ruandischer Herkunft sein. Auch sollen die Befugnisse des unabhängigen Kontrollgremiums erweitert werden. Er kann nun sein eigenes Mandat festlegen und Berichte über seine Inspektionen nach eigenem Ermessen veröffentlichen (das Innenministerium gestattet dies der britischen Einwanderungsbehörde nicht).

Die ursprüngliche Absichtserklärung wurde dem Parlament nicht zur förmlichen Prüfung oder Abstimmung vorgelegt und unterlag, anders als der jetzige Vertrag, nicht den Anforderungen des Constitutional Reform and Governance Act 2010 an die parlamentarische Kontrolle, da sie keine rechtsverbindlichen Verpflichtungen begründete. Dies führte mitunter auch zu der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, eine einstweilige Verfügung zu erlassen, die zur Annullierung des ersten Abschiebeflugs am 14. Juni 2022 führte.

Innenpolitische Dimension und Abkehr von der Rechtsstaatlichkeit

Die Diskussionen um die Verabschiedung des neuen Gesetz sind auch symbolhaft für die aktuelle innenpolitische Lage. Auf die ehemalige britische Innenministerin Suella Braverman, die die „übermäßig nachsichtige“ Behandlung pro-palästinensischer Demonstrant*innen durch die Polizei kritisiert hatte und entlassen wurde, folgte James Cleverly. Dieser verkündete noch am Tag der Urteilsverkündung des Gerichtshofs die Absicht, das Vorhaben der Regierung „

Die Diskussionen um die Verabschiedung des neuen Gesetz sind auch symbolhaft für die aktuelle innenpolitische Lage. Auf die ehemalige britische Innenministerin Suella Braverman, die die „übermäßig nachsichtige“ Behandlung pro-palästinensischer Demonstrant*innen durch die Polizei kritisiert hatte und entlassen wurde, folgte James Cleverly. Dieser verkündete noch am Tag der Urteilsverkündung des Gerichtshofs die Absicht, das Vorhaben der Regierung „illegale“ Einreisen mithilfe des Deals zu stoppen, fortsetzen zu wollen. Premierminister Rishi Sunak ging noch weiter und sagte, dass die Regierung bereit sei „internationale Beziehungen zu überprüfen, um Hindernisse zu beseitigen, die uns im Weg stehen“. Damit gemeint war unter anderem die Möglichkeit eines Austritts aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte, um auszuschließen, dass der Ruanda-Deal vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angefochten werden könne.

So weit geht der neue Vertrag (noch) nicht, doch es zeigt die tiefe Spaltung innerhalb der Konservativen Partei. Im Vorfeld der Abstimmung über den neuen Vertrag hatte es große Zweifel daran gegeben, ob Sunak die erforderliche Mehrheit erhalten würde. Sowohl der rechte als auch der gemäßigte Parteiflügel hatten große Vorbehalte gegen das Gesetz. Die Regierung konnte jedoch in letzter Minute die erzkonservativen Abgeordneten davon überzeugen, zumindest nicht gegen das Gesetz zu stimmen, indem sie ihnen Zugeständnisse in Aussicht stellte. Am Ende stimmten 313 Abgeordnete für den Gesetzentwurf, 269 dagegen.

Dass der neue Vertrag mit seinen rechtsgerichteten Maßnahmen dem rechten Lager der Tories nicht weit genug geht – da das neue Gesetz noch Einsprüche von Individualpersonen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zulasse – zeigt die weiterhin wachsende Abkehr von rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Grundprinzipen sowohl in Großbritannien, als auch im gesamteuropäischen Kontext, ganz aktuell im Hinblick auf das neue, sehr restriktive französische Migrationsgesetz, welches mit den Stimmen des rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen verabschiedet wurde. Das in beiden Fällen Zugeständnisse an rechtsextreme Parteien bzw. Parteiflügel gemacht wurden, um Gesetzesvorhaben, die von zahlreichen Menschenrechtsorganisationen und Expert*innen kritisiert wurden, durchzubringen, zeigt eine gefährliche Entwicklung: nicht nur in der Migrationspolitik, sondern auch im Schutz der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit.