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Channel crossings & UK

„Wir wären fast gestorben“

Videobeweis für gewaltsames Vorgehen gegen Boote an der nordfranzösischen Küste. (Quelle: Lighthouse Reports)

Sollte jemand der Illusion angehangen haben, nur im Süden und Osten der EU griffen Grenzschützer*innen zu Maßnahmen, die Geflüchtete gefährden und gegen Menschenrechte verstoßen – die Lighthouse Reports-Publikation „Sink the boats“ räumt damit gründlich auf. Videos und Dokumente vom Ärmelkanal belasten die französische Polizei schwer.

Ein vollbesetztes Schlauchboot, an Bord drängen sich Menschen in orangen Schwimmwesten, Mützen und Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Plötzlich nähert sich von links in schneller Fahrt ein Boot der französischen Polizei. Kurz vor dem Schlauchboot wendet es abrupt und macht einen U-Turn. Der scharfe Richtungswechsel lässt das Meer aufspritzen und erzeugt starke Wellen, die das Schlauchboot schaukeln lassen. Die Insassen rufen aufgeregt durcheinander, einige filmen die Szene mit ihrem Telefon, als sich das Polizeifahrzeug erneut nähert und diesmal an der anderen Seite passiert. Schließlich macht es sich nach einer weiteren Wellen schlagenden Wende im schäumenden Weißwasser davon, in Richtung einer Skyline, die zu den Hafenanlagen von Dunkerque zählt (siehe Abbildung oben).

Das 47 Sekunden lange Video, aufgenommen am 9. Oktober 2023, das seit dem Wochenende auf verschiedenen Websites zu sehen ist, zeigt, mit welchen Mitteln die französische Polizei vorgeht um Boote mit Geflüchteten auf dem Weg nach England zurückzuhalten. Erstmals sind diese ‚Pullback‘- Methoden nun in bewegten Bildern dokumentiert.

Veröffentlicht wurden sie vom Investigations-Kollektiv Lighthouse Reports (LHR), das bei den Recherchen von Le Monde, The Observer und Der Spiegel unterstützt wurde. In einem weiteren online verfügbaren Video sind vier Polizisten auf einem Gendarmerie– Schlauchboot nahe des Cap Griz-Nez südwestlich von Calais zu sehen. Sie bedrohen die Passagier*innen eines anderen Boots mit Pfefferspray und fordern sie auf umzukehren.

Lighthouse Reports spricht von „zuvor ungesehenen Aufnahmen, geleakten Dokumenten und Zeugenaussagen, die zeigen, dass die französische Polizei aggressive Methoden angewendet hat, um Migrant*innen auf See abzufangen, einschließlich um ein Boot herumzukreisen und Wellen zu erzeugen um es zu überfluten, ein Boot zu rammen, während sie die Passagier*innen mit Pfeffer-Spray bedrohten, und ein Boot zu durchstechen, das schon auf dem Meer ist, sodass Menschen gezwungen sind zurück ans Ufer zu schwimmen.“

Die Videos seien lokalisiert und auf ihre Echtheit überprüft, heißt es weiter. Mitglieder sowie der UK Border Force wie der französischen Küstenwache, denen man die Videos zeigte, hätten zudem bestätigt, dass die entsprechenden Taktiken die Leben der Passagiere gefährdet hätten und illegal seien. Der Guardian zitiert in einem Artikel zum Thema einen Search & Rescue-Experten: „Alleine dieses eine Manöver hätte zu zahlreichen Toten führen können. Das Wasser ist tief genug um zu ertrinken.“

Bei Recherchen in Nordfrankreich sei man zudem auf mehrere Personen getroffen, die bereits versucht hätten den Kanal in Booten zu überqueren. Die Fahrzeuge seien jedoch nach der Abfahrt von der Polizei aufgeschlitzt worden. Zitiert wird ein indischer Mann, der von einem Überfahrtsversuch auf einem überfüllten Boot berichtet. Die 46 Personen stammten vor allem aus Indien und Afghanistan. „Wir fuhren etwa zehn Minuten ohne Probleme in der Morgendämmerung. Dann kam ein Boot. Es war ein Gendarmerie-Boot, sie trugen Uniformen. Sie sagten, „Stoppt das Boot“. Sie fuhren in einem Kreis um das Boot herum, und dann zerstachen sie es und verschwanden. Wir mussten ungefähr zehn Minuten ans Ufer zurückschwimmen. Wir wären fast gestorben.“ Zwei andere Passagiere machten übereinstimmende Angaben zu dem Vorfall. Vier weitere Personen hätten von vergleichbaren Situationen berichtet.

Laut den Recherchen von Lighthouse Reports wurde eines der Patrouille-Boote in den Videos mit dem Geld angeschafft, das Frankreich von Großbritannien erhält um klandestine Kanal-Überquerungen zu verhindern und Booten zurückzuhalten. Letztes Jahr kündigte die britische Regierung an, Frankreich zu diesem Zweck innerhalb von drei Jahren annähernd 500 Millionen Pfund zu überweisen.

In einem Thread auf X publiziert Lighthouse Report ein geleaktes Dokument mit Anweisungen für die französische Polizei vom März 2023. Dieser wird darin gestattet Boote auf See abzufangen – allerdings nur, wenn diese nicht mehr als drei Passagiere hätten, und auf eine Art, welche die Integrität des Bootes nicht gefährde. Die Annäherung dürfe freilich „nicht mit hoher Geschwindigkeit“ geschehen, „oder einen Kollisionskurs einnehmend“.

Erwähnt wird auch „Quellen“ aus dem französischen Innenministerium, wonach Frankreich „enormen Druck“ von britischer Seite erfahre um das Ablegen der Boote zu verhindern. Weiter stellt LHR die Frage zur Debatte, ob die gestiegene Zahl von Todesopfern in Küstennähe – eins in 2022, bereits fünf in diesem Jahr – mit diesen Praktiken zu tun haben könnten. Abschließend zitiert der Thread Remi Vanderplanque, ein Mitglied der französischen Küstenwache: „Wenn die Polizei weiterhin solche Taktiken anwendet, wird ein Todesopfer irgendwann wahrscheinlich.“