Westlich von Dunkerque entsteht seit Herbst 2023 eine ausgedehnte Anlage aus Metallzäunen und anderen Barrieren (siehe hier). Es ist eine der größten antimigrantischen Architekturen an der nordfranzösischen Küste überhaupt. Die Anlage überzieht den Jungle von Loon-Plage und mit ihm den Ausgangspunkt für zahlreiche Bootspassagen nach Großbritannien. Die Investition von über 5 Millionen Euro bewirkte bislang jedoch lediglich eine Verlagerung des Camps um einige hundert Meter. Die katastrophale Versorgungs- und Sicherheitslage für die Bewohner_innen des Jungle dürfte sich eher weiter verschlechtern.
Details über die Anlage hat InfoMigrants im Frühjahr veröffentlicht. Das französische Onlinemedium nennt zwei Akteure. Einerseits ist es die Eisenbahngesellschaft SNCF Réseau mit der Errichtung von 3.000 Metern Zäunen auf der Strecke Dunkerque-Calais zu dem Zweck, Migrant_innen vor Unfällen zu schützen und Beschädigungen von Bahnanlagen zu verhindern. In der Tat verläuft die Bahnstrecke sowohl am Rand des Jungle von Loon-Plage als von Camps in Calais. An beiden Orten ereigneten sich bereits tödliche Unfälle bzw. Suizide von Exilierten, und an beiden Orten wurde die Gleisanlage in jüngster Zeit mit Zäunen versehen.
Wichtiger als die Eisenbahngesellschaft dürfte der zweite Akteur sein: die Hafengesellschaft Grand Port Maritime de Dunkerque (GPDM). Obschon das Gelände nicht direkt an der Küste liegt, ist es mit einer Wasserstraße und einigen Unternehmen Teil der Hafenökonomie.
Aus einer von InfoMigrants zitierten Mitteilung über die Vergabe öffentlicher Aufträge vom 21. September 2023 geht hervor, dass GPDM einen umfassenden Auftrag zur „Lieferung, Aufstellung, Reparatur, Instandhaltung und Anpassung von Zäunen“ auf ihrem Gelände vergeben hat. Der Auftrag ist in zwei Lose unterteilt, die sich jeweils auf kleinere bzw. größere Auftragssummen beziehen. Organisiert ist der Auftrag in Form von Rahmenvereinbarungen mit Unternehmen, die es der Hafengesellschaft ermöglichen, innerhalb einer Vertragslaufzeit von vier Jahren kleinere Folgeaufträge bis zu einer Gesamthöhe von 700.000 Euro und größere Folgeaufträge bis zu einer Gesamthöhe von 4.500.000 Euro ohne neuerliche Ausschreibungen an die Vertragspartner zu vergeben. Insgesamt kalkuliert die Hafengesellschaft also mit Ausgaben von 5.200.000 Euro bis 2027. Das gewählte Konstrukt gibt ihr die Möglichkeit, bei Bedarf flexibel auf Veränderungen zu reagieren.
Eine der beauftragten Firmen ist Clôtues Saniez, ein auf Zäune spezialisiertes Unternehmen. Aus einem Facebook-Post der Firma geht hervor, dass die Arbeiten zur „Sicherung des Hafens von Dunkerque gegen Migranten nach England“ Mitte November 2023 begonnen wurden und bis Janaur 2024 sechs Kilometer „Spezialzaun mit einer Höhe von 3 m“ aufgestellt werden sollten. Da auch danach noch Zäune errichtet wurden, dürfte nur ein Teil der heute sichtbaren Anlage gemeint gewesen sein.
Offen bleibt die Frage, wie die Behörden in das Projekt einbezogen sind und ob hierfür auch britische Gelder verwendet werden, die im Rahmen bilateraler Vereinbarungen in der Vergangenheit auch für die Absicherung der Hafenanlagen gegen irreguläre Migration bereitgestellt wurden.
Vor Ort wurden das Ausmaß und die Logik der Zaunanlage erst allmählich sichtbar. In dem weitläufigen Gebiet wechseln die Camps nach Räumungen, infolge systematischer Rodung schützender Vegetation sowie nach dem Umpflügen oder Aufbaggern des Bodens immer wieder ihren Standort. Eine erhöht verlaufende Nationalstraße teilt das Gelände in einen südlichen und einen nördlichen Bereich. Außerdem durchqueren die Bahnstrecke Dunkerque-Calais, mehrere Gleise für den Güterverkehr und mehrere öffentliche Straßen das Gelände. Die Betriebsgelände der erwähnten Unternehmen befinden im Südteil.
Als wir das Areal im April besuchten, war bereits erkennbar, wie massiv die Zäune eingriffen. Vor allem war ein Gebiet rund um die Route du Port Fluvial, einer Stichstraße zu einigen Unternehmen im Südteil, vollständig abgezäunt und mit einem Checkpoint samt Wachhaus versehen worden. Weitere Zäune begleiteten die Bahngleise. Andere Bereiche des Südteils waren jedoch noch frei zugänglich und, sofern Wald- und Gebüschinseln verblieben waren, mit Zelten besiedelt.
Als wir Mitte Juli erneut dort recherchierten, war der Südteil in Gänze von Zäunen umgeben. Auch der Checkpoint an der Route du Port Fluvial war zwischenzeitlich in Betrieb genommen worden. Breitbeinig auf der Fahrbahn stehend, kontrollierte ein Wachmann den Verkehr. Als wir uns einige Minuten in seiner Sichtweite aufhielten, ohne den Checkpoint auch nur zu betreten, entstiegen vier Beamt_innen der Nationalpolizei einem verbeulten Zivilfahrzeug und überprüften auf rüde Weise unsere Personalien.
Ist der Südteil des Geländes inzwischen vollständig abgezäunt, gilt dies für den Nordteil noch nicht. Auch hier sind die gleichen Zäune sichtbar, auch hier begleiten sie die Bahngleise und parzellieren das Areal auf diese Weise. Doch verschließen sie das Gebiet nicht vollständig. Ein Teil der Camps, die in ihrer Summe den Jungle bilden, hat sich in diese unfertige Zaunlandschaft verlagert, andere auf benachbarte Flächen außerhalb der Anlage. Trotz der sie begleitenden Zäune dienen die Gleise weiterhin als Laufwege, doch gehen die Menschen nicht an der Außen-, sondern der Innenseite der Zäune. Insgesamt beschränken die Zäune die Bewegungsfreiheit und ermöglichen es den Behörden, bei Räumungen die Bewegungsrichtung der Exilierten abzuschätzen, etwa um sie zu sammeln und in Aufnahmezentren zu bringen, aus denen die Meisten dann nach wenigen Tagen zurückkehren.
An einer schmalen Landstraße, die den Nordteil durchquert, befindet sich die distribution area: Das Rote Kreuz ist mit mehreren Fahrzeugen präsent, No Border Medics leistet medizinische Erstversorgung, Project Play aus Calais ermöglicht Kindern und Müttern eine kurze Auszeit, die lokale Initiative Roots hat zwei improvisierte Duschkabinen aufgestellt und ermöglicht das Aufladen der Mobiltelefone. Wichtige und im Notfall lebensrettende Informationen hängen aus, etwa zum Schutz vor elektrischen Schlägen auf den Gleisen, zu nautischen Daten und zum Verhalten bei Havarien auf See. Während wir uns umsehen, wird aus der Umgebung des Jungle ein Schuss gemeldet. Bereits mehrfach war der Jungle Schauplatz teils tödlicher Gewalt, die allgemein als Konflikt zwischen oder Machtdemonstration von Schleusern gilt. In früheren Gesprächen mit NGOs erfuhren wir außerdem von Verletzten, als im Winter kleine Streitigkeiten entlang der ethnischen Zugehörigkeit zu heftigen Gewaltausbrüchen eskalierten. Es liegt auf der Hand, dass die Verfügbarkeit elementarer Ressourcen unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit der Exilierten hat. Der Bau der Zäune dürfte die Situation verschlimmern, weil er den Raum verknappt.
Möglicherweise wird der Nordteil in einiger Zeit ähnlich hermetisch umzäunt sein wie der Südteil. Die Camps dürften sich dann ein weiteres Mal verlagern. In der Umgebung sind weitere Brachfläche vorhanden, aber auch die Zäune selbst zeigen bereits Lücken und Schlupflöcher.