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Zweifelhafte Vorwürfe gegen Utopia 56

Die in Nordfrankreich aktive NGO Utopia 56 hat über die Tageszeitung Le Monde mehrere strafrechtliche Vorermittlungen publik gemacht. Betroffen sind drei Freiwillige bzw. Bedienstete, die Vorladungen erhalten haben. Die Ermittlungen beziehen sich auf das Engagement von Utopia 56 an der französisch-britischen Grenze und gipfeln in dem Vorwurf, in Notsituationen falsche Alarme ausgelöst zu haben. Utopia 56 weist dies entschieden zurück und will durch das Öffentlichmachen der Ermittlungen für Transparenz sorgen.

Einer am gestrigen 3. Dezember veröffentlichten Presseerklärung zufolge beziehen sich die Ermittlungen einerseits auf die angebliche „Verleumdung der Polizei aufgrund von Kommentaren, die auf X (ehemals Twitter) über ein in Brand gesetztes Boot veröffentlicht wurden“. Andererseits wird Utopia 56 beschuldigt, zweimal „die Rettungsdienste absichtlich auf falsche Situationen aufmerksam gemacht zu haben, welche diese in ungerechtfertigter Weise mobilisiert hätten oder hätten mobilisieren können“.

Diese schwerwiegenden Beschuldigungen beziehen sich auf Fälle in den Jahren 2023 und 2024. Utopia 56 erklärt hierzu, im August 2023 habe ihr Team die Rettungskräfte über eine Notsituation auf See informiert. Die/der betreffende Freiwillige werde nun beschuldigt, „den Rettungsdiensten einen falschen Alarm übermittelt zu haben, um sie von anderen Situationen abzulenken, die ihre Anwesenheit erforderten, und so das Leben anderer in Gefahr zu bringen.“ Im zweiten Fall habe ein Freiwilliger im August 2024 die Rettungskräfte angerufen, „um den mutmaßlichen Tod eines Kindes zu melden, der ihm gemeldet worden war. Dabei habe der Freiwillige deutlich darauf hingewiesen, „dass er nichts bestätigen könne und nur die Aussagen von in Panik geratenen Menschen weitergeben würde“.

Utopia 56 weist die Vorwürfe entschieden zurück. Die Organisation gibt zu bedenken, dass die Freiwilligen sich allzu oft „mit Situationen konfrontiert sehen, die eine medizinische Versorgung und den Einsatz von Rettungsdiensten erfordern können. Da sie weder medizinische Fachkräfte noch speziell für medizinische Notfälle ausgebildet sind, ist es nur natürlich, dass sie die Entscheidung, einzugreifen oder nicht, den Rettungsdiensten überlassen.“ Wenn ihnen nun vorgeworfen werde, sie würden die Rettungskräfte von realen Notsituationen ablenken, entspreche dies „weder der Realität dieser beiden Vorfälle noch den Kommunikationskanälen, die der Verein mit der Polizei und der Feuerwehr aufzubauen versucht“. Anfragen von Utopia 56 um Gesprächstermine, um den Informationsfluss zu Rettungsdiensten und Strafverfolgungsbehörden zu verbessern, seien mehrfach unbeantwortet geblieben.

Fragwürdig erscheinen die Ermittlungen auch angesichts des Umfangs der von Utopia 56 geleisteten Arbeit. Nach eigenen Angaben nahm die Organisation im laufenden Jahr 384 Seenotrufe entgegen, die insgesamt mehr als 13.400 Menschen betrafen. Hinzu kommen rund 14.000 Menschen, die nach gescheiterten Bootspassagen betreut wurden und die oftmals durchnässt, traumatisiert oder verletzt angetroffen wurden. Nicht selten werden Utopia-Teams von Rettungs- und Polizeikräften um Hilfe gebeten, die mit solchen Situationen überfordert seien. Gleichzeitig beobachtete und dokumentierte Utopia 56 zahlreiche Fälle von Polizeigewalt und meldete diese an die zuständige Stelle innerhalb der Nationalpolizei und den Défenseur des Droits, eine Menschenrechtsbehörde der Französischen Republik. Dies geschehe aus der Überzeugung, „dass die Einhaltung des rechtlichen Rahmens bei der Bewältigung angespannter humanitärer Situationen überall und zu jeder Zeit unerlässlich ist“.

Utopia 56 verweist auf den massiven Anstieg der Todesfälle in der Küstenregion auf mehr als 80 Opfer in diesem Jahr: „Eine Zahl, die höher ist als die Gesamtsumme der letzten fünf Jahre. Ohne das Eingreifen der an der Küste tätigen Vereine wären viele weitere Todesfälle zu beklagen. Aus diesem Grund werden die Teams von Utopia 56 trotz der Hindernisse, die diese Vorermittlungen darstellen, weiterhin Tag und Nacht vor Ort tätig sein, um humanitäre Hilfe zu leisten und die Gewalt der Migrationspolitik anzuprangern.“

Utopia 56 kündigt an, im weiteren Verlauf der Ermittlungen mit den Gerichten zu kooperieren und Belege zur Entkräftung der Vorwürfe vorzulegen. Mit der aktuellen Veröffentlichung wolle man darauf aufmerksam machen, dass die schon jetzt gängigen Einschüchterungen und Behinderungen – 98 Polizeikontrollen und 59 Fahrzeugdurchsuchungen der Utopia-Teams seit Jahresbeginn – mit den Ermittlungen eine beunruhigende Veränderung erfahren habe.

Vor dem Hintergrund unserer langjährigen Beobachtung der Situation im Küstengebiet erscheint es nicht glaubhaft, dass Angehörige von Utopia 56 bewußt falsche Alarme ausgelöst und leichtfertig Menschenleben gefährdet haben sollen. Die Vorwürfe reihen sich jedoch in ein rechtes Narrativ ein, das humanitären und solidarischen Initiativen eine Mitschuld an der katastophalen Situation gibt, manchmal auch eine Zusammenarbeit mit Schleusernetzwerken unterstellt und zugleich gereizt auf die Dokumentation gewaltvoller Polizeiroutinen reagiert. Dieses Phänomen ist nicht nur in Frankreich zu beobachten, sondern ist Teil des politischen Rechtsrucks, den Europa momentan erlebt. Vor diesem Hintergrund geben die Vorermittlungen am Ärmelkanal durchaus Anlass zur Sorge.