Nachdem fünffachen Mord bei Dunkerque, dem am 14. Dezember 2024 u.a. zwei iranische Kurden aus dem Jungle von Loon-Plage zum Opfer fielen (siehe hier), gaben die Behörden weitere Informationen zum Hergang der Tat und zur Person des Täters Paul Domis bekannt. Vieles bleibt unklar, auch das Motiv. Allerdings gibt es Berührungspunkte zwischen dem Täter und der Migrationsabwehr an der Kanalküste.
Wie die Zeitung La voix du Nord in mehreren Beiträgen berichtet, bestätigte die Staatsanwalt von Dunkerque auf einer Pressekonferenz folgenden Ablauf der Tat: Zuerst erschoss Domis seinen früheren Arbeitgeber Paul Dekeister in Wormhout, worüber die Gendarmerie um 15:13 Uhr informiert wurde. Um 16:15 Uhr folgte die Alarmierung der Polizei von Dunkerque über den Tod der beiden Sicherheitsleute der Firma Eamus Cork Security (ECS) zweier iranischer Kurden auf einer Straße, die den Jungle von Loon-Plage durchzieht. InfoMigrants weist darauf hin, dass die Morde an den beiden Kurden auf derselben Straße verübt wurden, die Exilierte nehmen, um zum Verteilungdplatz der lokalen NGOs für Hilfsgüter zu gelangen, sodass viele Exilierte die Szene mitbekamen. Außerdem richtete Domis seine Waffe auf zwei Passanten, und zwar einen Vater und seinen Sohn, die zum Zeitpunkt des Mordes an den Kurden mit hohem Tempo vorbeifuhren. Um 17:10 Uhr stellte Domis sich in seinem Heimatort Ghyvelde der Gendarmerie. Bis dahin war er strafrechtlich nie in Erscheinung getreten.
Die Gendarmen entdeckte in seinem Auto fünf Waffen. Für seine Taten habe er einen Karabiner mit Kaliber 44 und ein Jagdgewehr mit Kaliber 12 benutzt. Zwölf weitere Waffen wurden in dem Haus entdeckt, in dem er bei seinen Eltern lebte. Von diesen Waffen gehörte eine der Kategorie C an, die übrigen der Kategorie B oder niedriger. Die Kategorien B und C bezeichnen im französischen Waffenrecht genehmigungs- bzw. anmeldepflichtige Schusswaffen, die etwa im Schießsport verwendet werden. Domis war bei einem Schützenverein im benachbarten Leffrinckoucke registriert und übte den Sport aktiv aus.
La voix du Nord schildert Domis als einen schmächtigen jungen Mann, der trotz seines Alters von 22 Jahren eher einem Heranwachsenden von 16 oder 17 Jahren glich. Zum Zeitpunkt der Tat war er ein arbeitsloser Lastwagenfahrer. Zuvor war er bei Paul Dekeister, seinem ersten Opfer, angestellt gewesen, aber im Oktober entlassen worden. Außerdem hatte er bei Eamus Cork Security gearbeitet, also der Firma, der zwei seiner Opfer angehörten. Seine Beschäftigung dort dauerte ja nach Quelle vier bzw. sechs Monate.
Domis habe bei den Polizeiverhören kooperiert und die fünf Morde abermals zugegeben. Gleichwohl müsse, so die Staatsanwaltschaft das „genaue Motiv noch ermittelt werden“. Hinweise auf eine psychische Erkrankung, Alkohol- oder Drogeneinfluss sowie weitere Tatbeteiligte sollen nicht aufgetaucht sein. Beim Haftprüfungstermin am 17. Dezember wurde Domis in Untersuchungshaft genommen. Er ist wegen mehrerer Mord- und Waffendelikte angeklagt und könnte zu lebenslanger Haft verurteilt werden.
In der französischen Öffentlichkeit besteht Unklarheit über die Einordnung der Taten, etwa ob sie als Attentat aufgefasst werden können, was eine politisch oder ideologisch motivierte Absicht voraussetzen würde. Spekuliert wird auch, ob die Taten mit der Entlassung Domis durch sein späteres Opfer zusammenhängen.
Vorläufig können wir jedoch festhalten, dass Domis nach dem Mord an seinem früheren Arbeitgeber gezielt das Gelände des Jungle von Loon-Plage ansteuterte, dabei fünf Schusswaffen mit sich führte und dort vier Menschen tötete, die auf jeweils unterschiedliche Weise mit diesem Ort, mit der informellen Migration nach Großbritannien bzw. mit deren Bekämpfung zu tun hatten. Die beiden ermordeten Security-Leute arbeiteten für die Firma Eamus Cork, einen weiteren frühen Arbeitgeber des Täters. Wie die Staatsanwaltschaft mitteilte, soll Domis angegeben haben, die Tat habe nicht den beiden Wachleuten gegolten, sondern auf das Management gezielt.
Die Firma Eamus Cork Security ist ein lokales Unternehmen mit Sitz im nahen Craywick. Sie gehört seit Langem zu den wirtschaftlichen Profiteuren der Migrationskrise an der nordfranzösischen Küste. Als Referenz gibt sie neben Aufträgen der lokalen Hafengesellschaft und der kanalübergreifenden Fährlinie DFDS auch die britische Border Force an: „Die Eamus Cork Group ist der bevorzugte Vertragspartner der britischen Regierung, um die hoheitlichen institutionellen Sicherheitsaufgaben der Border Force […] zu erfüllen, die für die Grenzkontrollen zum Vereinigten Königreich auf französischem Staatsgebiet in Anwendung des Abkommens von Le Touquet seit 2004 über den Ärmelkanalverkehr zuständig ist“, heißt es auf der Website des Unternehmens. Eamus Cork ist, mit anderen Worten, ein privatwirtschaftlicher Dienstleister der externalisierten britischen Migrationsabwehr auf französischem Territorium.
Es wäre verfehlt, hieraus unmittelbar auf ein Motiv für die Morde zu schließen. Hierfür wissen wir schlicht zu wenig. Allerdings wird deutlich, dass die Sekuritisierung der Kanalgrenze im prekären beruflichen Werdegang des Täters eine Rolle spielte, und dass ihn gleichzeitig etwas zu der Entscheidung bewog, vier seiner fünf Morde an einem Ort zu begehen, der hiermit sehr viel zu tun hat: dem Jungle von Loon-Plage.
Dieser Kontext der Morde ist beunruhigend, gleich ob es sich um ein politisch oder ideologisch motiviertes Attentat gehandelt hat oder um eine aus persönlichen Motiven begangene Amokfahrt.