Kategorien
Calais

Abfall vor Gericht

Vor dem Verwaltungsgericht Lille wurden gestern vor großem Publikum die mündlichen Plädoyers in einem Prozess gehalten, in dem verschiedene Associations aus Calais erreichen wollen, dass die Stadt sich um eine Müllentsorgung für die Lebensorte der Exilierten in ihrem Gebiet kümmert. Obwohl der Vertreter der Stadt erklärtermaßen vor allem prozesstaktisch plädierte, waren seine Ausführungen im Ergebnis hochpolitisch. Ein vorläufiges Urteil im Eilverfahren wird bis spätestens nächste Woche Dienstag erwartet.

Verwaltungsgericht in Lille
Verwaltungsgericht in Lille (Foto: S.Zinflou)

Die Zuschauerstühle im Gerichtssaal 3 des Verwaltungsgerichts in Lille waren am Dienstag bis auf den letzten Platz gefüllt. 27 Zuschauer_innen verfolgten die Plädoyers im Prozess von drei zivilgesellschaftlichen Organisationen, Calais Food Collective, Salam und Solidarités International, gegen die Stadt Calais und die Calaiser Agglomeration, um eine reguläre Müllentsorgung für die Camps in Calais zu erreichen.

Im Kern berufen sich die Organisationen auf ein Urteil des französischen Verfassungsgerichtes (Conseil d’État) vom 23. November 2015. Damals hatten mehrere Organisationen erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht in Lille geklagt; das ergangene Urteil griff das französische Innenministerium vor dem Verfassungsgericht an. Dieses bestätigte es jedoch und hielt in der Urteilszusammenfassung unter anderem fest:

Der Staat und die Gemeinde Calais wurden angewiesen, innerhalb von acht Tagen mit der Einrichtung zusätzlicher Wasserstellen, Toiletten und Abfallsammeleinrichtungen zu beginnen, das Gelände zu reinigen und Zugang für Rettungsdienste zu schaffen.

Ende vergangenen Jahres 2024 hat Solidarités International eine Erhebung über fehlende Möglichkeiten der Abfallentsorgung im Umfeld der Camps durchgeführt und dokumentiert und dabei „erhebliche, unmenschliche und erniedrigende hygienische Bedingungen“ festgestellt. Seit 2018 weigere sich die Stadtverwaltung, in diesen ohnehin schon extrem prekären Wohngebieten ein System zur Müllabfuhr einzurichten (siehe hier), wozu sie nach französischem Recht grundsätzlich verpflichtet ist.

Die Associations sind erfolglos mit vielen Warnungen und Vorschlägen an die Behörden herangetreten. Mit Blick auf die nun steigenden Temperaturen und der damit einhergehenden stärkeren Ausbreitung sowohl von Krankheiten als auch von Schädlingen befürchten sie steigende Gesundheitsrisiken an den Lebensorten. Daher entschieden sich die Verbände – vertreten durch den Rechtsanwalt Lionel Crusoé – für einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung zur

  • Bereitstellung der notwendigen und geeigneten Ausrüstung zur Gewährleistung der Hygiene in den Lebensorten (Müllcontainer, Mülltonnen und Müllsäcke);
  • Einrichtung eines Müllabfuhrdienstes mit angemessener und ausreichender Häufigkeit;
  • regelmäßigen Abstimmung mit den antragstellenden Verbänden, um eine ausreichende und angemessene Dimensionierung unter Berücksichtigung der wechselnden Lage der Lebensorte und der dort anwesenden Personenzahl sicherzustellen.

Obwohl es für Behörden durchaus üblich ist, ihre Verwaltungsgerichtsverfahren mit Justiziar_innen oder hohen Beamten zu bestreiten, ließen sich die Stadt und die Agglomeration durch den Rechtsanwalt Paul-Guillaume Balay vertreten. Der erklärte vor allem eine prozesstaktische Argumentation führen zu wollen und bestritt daher prinzipiell alle von den Associations vorgetragenen Tatsachen, was sicherlich auch für seine Auftraggeber_innen die politisch bequemste Strategie gewesen sein dürfte: so musste er zu den hygienischen Zustände im Umfeld der Camps keine Stellung nehmen.

Neben vorgetragenen Bedenken in Bezug auf die technische Durchführbarkeit einer Müllentsorgung und der Schilderung der bereits getroffenen Maßnahmen der Stadt, nahmen zwei Behauptungen breiten Raum ein, die entgegen seiner Ankündigung eine große politische Dimension hatten.

Vermutlich nach einer Räumung zurückgebliebene Abfälle auf dem Zufahrtsweg zum Camp „Old Lidl“, Februar 2024 (Foto: S.Zinflou)

Ausgehend von der Binsenweisheit, dass ein Leben in informellen Camps immer prekär ist, und es ja Unterbringungsmöglichkeiten gibt (nicht ausgesprochen, aber allen im Saal bekannt: außerhalb von Calais), entwickelte er eine Argumentation, die darauf hinauslief, dass menschenwürdige Bedingungen für die Exilierten in Calais ohnehin illusorisch seien: „Ein illegales Lager ist von Natur aus unhygienisch […] Wir werden nie eine sanitäre Situation erreichen.

Da es in dem Fall ganz konkret darum ging, Abfallsammelstellen in der Nähe der Camps zur Verfügung zu stellen oder eben zu verweigern, dürfte dieser Teil der Argumentation juristisch nicht geholfen haben. Im Gegenteil ist der Satz, mit dem er sich auch von AFP hat zitieren lassen, die gerade noch verklausulierte politische Erklärung, die Exilierten durch Verweigerung von Daseinsvorsorge zu zwingen, die Region zu verlassen.

Seine zweite für eine prozesstaktische Argumentation erstaunliche Ausführung war die Darstellung der Camps als ein im Grunde temporäres Phänomen. Untermauern sollte sie die Behauptung, dass eine Müllentsorgung gar nicht planbar sei. Dann beklagte er im Anschluss noch ausgiebig die mühselige Prozedur und die viele Arbeit, die die Stadt damit habe, private Besitzer dazu zu bringen, die Räumung von Camps auf ihrem Grund gerichtlich durchzusetzen.

Natürlich sind die genauen Standorte der Camps und vor allem ihre Belegung Schwankungen unterworfen, allerdings existieren einige von ihnen seit Jahren oder Jahrzehnten und ihre grundsätzlich höhere Belegung im Sommer dürfte für eine Stadt, die mit Tourismus zu tun hat, kein unbeherrschbares Phänomen sein. Für die Aufstellung von Müllcontainern ist es auch völlig irrelevant, ob sich der genaue Standort des Camps um einige hundert Meter verändert. Wer die Situation vor Ort kennt, kann seine ebenfalls von AFP zitierte Aussage: „Kein Camp ist dauerhaft.“ eigentlich nur auf zwei Weisen verstehen – als politische Kampfansage oder als Wunschvorstellung.

Die Richterin kündigte eine Entscheidung im Eilverfahren bis spätestens kommenden Dienstag an.