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Intervention ins Flachwasser

Polizeieinsatz gegen ein Schlauchboot bei Gravelines, 13. Juni 2025. (Video: Utopia 56 / YouTube)

Seit fünf Monaten zeichnet sich ab, dass die französische Regierung den Operationsraum für Einsätze gegen ablegende Schlauchboote ausweiten will. Endeten die legalen Möglichkeiten bislang an der Wasserlinie, sollen sie nun auf die küstennahen Gewässer und auf Flüsse ausgeweitet werden. Ein Video legt den Schluss nahe, dass eine solche Praxis bereits angewandt wird. Im Juli könnten sie Teil bilateraler Vereinbarungen zwischen Frankreich und Großbritannein werden. NGOs befürchten, dass das Risiko für Todesfälle dann noch weiter zunehmen wird.

Die NGO Utopia 56 veröffentlichte am Weltflüchtlingstag ein Video, das eine Woche zuvor, am 13. Juni, bei Gravelines zwischen Calais und Dunkerque entstanden war. Zu sehen ist, wie vier mit Schilden, Schlagstöcken bzw. CS-Gas bewaffnete Polizisten durch hüfthohes Wasser zu einem Schlauchboot waten, auf dem sich etwa 20 Menschen befinden, darunter auch Kinder. Deutlich sichtbar ist, wie CS-Gas in Richtung Boot gesprüht wird, auch der Schlagstockeinsatz gegen Passagiere ist erkennbar. Wie die NGO mitteilt, ist es das erste Mal, dass eine solche Szene dokumentiert wurde. Weiter heißt es, durch den Einsatz seien „etwa fünfzehn Personen gezwungen worden, an den Strand zurückzukehren, wo sie durchnässt zurückblieben. Die anderen setzten ihren Weg fort und erreichten das Vereinigte Königreich.“

Nach den geltenden Einsatzrichtlinien ist dieses Vorgehen illegal. Diese erlauben es den Polizei- und Gendarmeriekräften zwar, gegen ablegende Schlauchboote vorzugehen, doch nur, solange diese noch nicht im Wasser sind. Ist dies der Fall, müssen diese Operationen enden, denn von nun an gilt das Primat der Seenotrettung. Ein Abfangen der Boote gegen den Willen oder sogar Widerstand der Passagier_innen würde dieses Prinzip konterkarieren und Menschenleben gefährden. Zwar wurden immer wieder Fälle bekannt, in denen französische Einsatzkräfte gegen die geltenden Richtlinien verstießen und Gewalt gegen Boote anwandten, die sich bereits im Wasser befanden (siehe etwa hier). Das in Gravelines aufgenommene Video geht jedoch darüber hinaus. Utopia 56 spricht von einer „neue Eskalation“.

Das Video zeigt, was schon bald gängige Praxis werden könnte. Seit Februar 2025 spricht der französische Innenministers Bruno Retailleau öffentlich von einer Änderung der Einsatzrichtinien, die es ermöglichen sollen, Boote in einem 300 Meter breiten Küstenstreifen aktiv aufzuhalten. Er äußerte dies angesichts stockender Verhandlungen zur Weiterentwicklung und -finanzierung des beiderseitigen Grenzregimes (siehe hier) und britischer Vorwürfe, nicht entschieden genug gegen die Boote vorzugehen. Begründet wurde das Vorhaben von Anfang an mit dem Phänomen der sogenannten Taxiboote, d.h. Schleuser lassen die Boote an einer für sie sicheren Stellen in See stechen die Passagier_innen an einer anderen Stelle zusteigen. Dass die Menschen dabei aus knie-, hüft- oder schulterhohem und je nach Jahreszeit eisigem Wasser an Bord gelangen müssen, schafft zusätzliche Risiken.

Anfang Juni berichtete der Guardian unter Berufung auf eine Quelle im britischen Innenministerium: „Die Franzosen haben diese Woche angekündigt, dass sie gegen die Taxiboote vorgehen werden, die im Landesinneren und in der Nähe der französischen Strände operieren, um diese gefährlichen Überfahrten zu verhindern“. Am 20. Juni brachte das Blatt in Erfahrung, dass die französischen Einsatzkräfte befugt werden sollen, gegen „Boote im Umkreis von 300 Metern vor der Küste und in den nahegelegenen Wasserstraßen“ vorzugehen. Die neue Strategie „soll rechtzeitig vor dem französisch-britischen Gipfel fertig sein, der am 8. Juli beginnt. Dieser fällt mit dem Staatsbesuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in London zusammen.“ Das von Utopia 56 veröffentlichte Videomaterial nähre Spekulationen, „dass die Polizei diese Taktik bereits anwendet.“

Utopia 56 weist darauf hin, dass „seit der massiven Aufstockung der Polizeikräfte vor zwei Jahren mindestens 65 Menschen in einem Umkreis von 300 Metern um die Küste ums Leben gekommen“ seien, während es in den fünf Jahren zuvor lediglich fünf waren. „Panik beim Anbordgehen ist zu einer der häufigsten Todesursachen geworden.“ Genau in diese Situation hinein interveniert die geplante Einsatztaktik. Dass sie zusätzliche Menschenleben kosten könnte, befürchten nicht nur die vor Ort tätigen NGOs. „Die französische Polizeigewerkschaft Unity hat sich besorgt darüber geäußert, dass Beamte gerichtlich belangt werden könnten, wenn Menschen während eines Einsatzes sterben“, so der Guardian.

Utopia 56 prüft ein strafrechtliches Vorgehen gegen den in Gravelines dokumentierten Einsatz und hat einen Bericht hierüber an die Défenseure des droits, eine unabhängige staatliche Stelle zum Schutz der Menschenrechte, übermittelt.