Einen Tag, nachdem bei Loon-Plage ein junger Mann aus dem Sudan durch eine Kopfschuss getötet und fünf weitere verletzt wurden (siehe hier), kam es am 15. Juni zu einer weiteren tödlichen Gewalttat. Französiche Medien berichten von einem Todesopfer, einem Schwer- und einem Leichtverletzten. Ein Sender aus dem irakisch-kurdischen Erbil veröffentlicht eine abweichende Darstellung.
„Wie ein Déjà-vu“, kommentierte die Zeitung La voix du Nord die neuerliche Gewalttat vom 15. Juni. Gegen 18:40 Uhr seien in der Nähe der Camps von Loon-Plage Schüsse abgegeben worden, woraufhin ein Großeinsatz von Rettungskräften und Polizei begonnen habe. Ein Mann sei durch einen Kopfschuss getötet worden. Ein weiterer Mann sei durch eine 9-Millimeter-Kugel in der Schläfe schwer verletzt und „quasi hirntot“ in das Krankenhaus von Lille geflogen worden. Einer dritten Person sei ins Bein geschossen worden. Anders als nach der Tat am Vortag, als zwei Personen mutmaßlich kurdischer und afghanischer Nationalität festgenommen wurden, habe es in diesem Fall noch keine Festnahmen gegeben.
Nach Ansicht der Zeitung La voix du Nord zeichnete sich die Eskalation seit einigen Wochen ab. „Schwere, aber nicht tödliche Verletzungen, die bis dahin wie Warnungen aussahen“, und „Akte der Einschüchterung gegenüber den afrikanischen Bewohnern, die im ‚Jungle‘ die Mehrheit bilden“, seien am 14. und 15. Juni in eine „Reihe von Morden und Mordversuchen“ übergegangen, „die wie Hinrichtungen aussahen“. Die Spannungen verlaufen „zwischen den Kurden, die das Schleusernetzwerk betreiben, und den Sudanesen, die sich um die Passage bemühen“, so das Blatt.
Eine anonyme Quelle berichtete derselben Zeitung:
„Die kurdischen Schleuser, die das Camp betreiben, betrachten Sudanesen und Eritreer als Nichts. Sie äußern sich untereinander rassistisch über diese Bewohnergruppe. Vor allem Migranten vom Horn von Afrika sind bei den Schleusern nicht kreditwürdig und werden von ihnen ausgebeutet. Die Afrikaner rebellieren und bestehen darauf, dass sie die Passage bekommen. Die Kurden, die das Netz zusammenhalten, zögern nicht, auf sie zu schießen, damit sie sich einordnen und den anderen zeigen, dass sie sich lieber zurückhalten sollten.“
Über die Identität des Opfers liegen widersprüchliche Angaben vor. La voix du Nord berichtet in dem zitierten Artikel, dass die Opfer der neuerlichen Gewalt „der afrikanischen Bevölkerung“ angehören.“ Trifft dies zu, so fügt sich die Tat in das eben beschriebene Muster.
Unterdessen veröffentlichte der im irakisch-kurdischen Erbil ansässige Sender Rudaw die Namen und Fotos zweier junger Kurden aus Kalar in der Provinz Sulaimani, die am 15. Juni „im Jungle bei Dunkerque getötet“ worden seien: Karzan Abdullah und Mohammed Najm. Eine dritte Person sei verletzt worden.
Karzan habe zehn Jahre in Deutschand gelebt und sei zum Arbeiten nach Frankreich und in den Jungle von Dunkerque gekommen. Dort kam es, so der Sender, offenbar zu einem Streit mit einer anderen Person aus der Provinz Sulaimani. „Mohammed Najm wollte Karzan beruhigen und ihm die Waffe abnehmen, doch in diesem Moment löste sich versehentlich eine Kugel und tötete Karzan“, zitiert der Sender einen Aktivisten. „Als Mohammed erkannte, dass Karzan wegen ihm versehentlich getötet wurde, beendete er sein eigenes Leben mit derselben Waffe am selben Ort.“
Rudaw weist darauf hin, dass die Angaben nicht unabhängig überprüft werden konnten. Auch sei unklar, ob es sich um denselben Vorfall mit einem Toten und zwei Verletzten handle, über den französischen Medien berichteten. Sollten beide Fälle identisch sein und diese Darstellung zutreffen, wäre der Hintergrund der Schüsse, die hier wie ein Unfall dargestellt sind, innerhalb der kurdischen Schleuserstruktur zu vermuten.
Aufgrund dieser widersprüchlichen Informationslage bleibt zum jetzigen Zeitpunkt also unklar, was am 15. Juni bei Loon-Plage geschehen ist.
Eine andere Konsequenz der Gewalt ist jedoch offensichtlich. Eine Sprecherin von Utopia 56 erklärte gegenüber InfoMigrants, dass die Bewohner_innen der Camps „große Angst“ haben und man „nicht genau weiß, was vor sich geht“. Die Organisation bedauert, „dass nach diesen Schießereien keine psychologische Betreuung in Loon-Plage eingerichtet wurde“. Auch sie bestätigt, dass es in den vergangenen Wochen „viele Spannungen“ gegeben habe, für die es jedoch noch andere Gründe gäbe: „Sie fallen mit den häufigeren Räumungen und der Zerstörung von Lebensorten zusammen, die nun jede Woche hier stattfinden.“