In Calais bestand seit Dezember 2020 la Crèche (die Krippe), eine kirchliche Nachtunterkunft für rund 15 minderjährige und schutzbedürftige Migrant_innen (siehe hier). Die konservative Bürgermeisterin Natacha Bouchart ließ die Einrichtung schließen – ausgerechnet in den letzten Tagen der Kälteperiode im Februar, und ausgerechnet unter Verweis auf die Sicherheit der Bewohner_innen. Daraufhin fordern prominente Vertreter_innen der katholischen Kirche und der französischen Caritas (Secours Catholique) nun einen Stopp der Räumungen und Verhandlungen über eine grundlegend andere Migrationspolitik.
Die als Krippe bekannte Notunterkunft knüpfte an eine langjährige Beherbergungsinitiative lokaler Aktivist_innen von Secours Catholique an; in den Vorjahren war hierfür eine Kirche genutzt worden, nach deren Verkauf dann das Haus des katholischen Dekanats in der Rue de Croy. Wie die Zeitung La voix du Nord berichtet, ist dieses bereits am 26. Februar durch einen Gerichtsvollzieher geschlossen worden. Zuvor hatte die Stadtverwaltung auf Antrag der Unterpräfektur eine Sicherheitsinspektion des Gebäudes durchgeführt. Die dabei festgestellte Berherbergung von Personen wurde als unerlaubte Nutzungsänderung des Gebäude ausgelegt. In der Schließungsverfügung der Bürgermeisterin ist von mangelnder Sicherheit und einer fehlenden Brandmeldeanlage die Rede.
Dass Bouchart den Exilierten ausgerechnet unter Verweis auf ihre Sicherheit die Schlafstätte entzieht, wertete der Geistliche Philippe Demeestère, der die ‚Krippe‘ für Secours Catholique betreut, als reine Heuchelei. In Calais, so erklärte er gegenüber der Zeitung, werde die Unterbringung als Problem angesehen, nie aber als Lösung. Seit der Schließung kümmert sich ein Nertzwerk von Freiwilligen nun darum, die Beherbergung in einem Nachbargebäude, das ebenfalls der Kirche gehört, fortzuführen; das Projekt findet die Zustimmung des Bistums Arras, zu dem auch Calais gehört.
Bereits in der Vergangenheit war die Arbeit von Secours Catholique in Calais teils mit brachialen Methoden behindert worden, etwa als die Stadt im Februar 2017 eine Einfahrt zu einer Tageseinrichtung der Organisation an der Rue de Moscou durch einen tonnenschweren Müllcontainer blockierte, um die Anlieferung von Duschkabinen für die Migrant_innen zu verhindern. Die Provinzposse sorgte damals landesweit für Schlagzeilen.
Am 3. März 2021 haben die Präsidentin von Secours Catholique, Véronique Fayet, und der Bischof von Arras, Olivier Leborgne, die Behörden genau dort aufgefordert, endlich ihre „Realitätsverweigerung“ zu beenden und eine „echte humanitäre Basis“ zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Calaiser Migrant_innen zu schaffen. Leborgne hat das Bischofsamt von Arras erst seit Oktober 2020 inne; bereits zu Beginn hatte er sich kritisch zur Behandlung der Migrant_innen geäußert. Wie die katholische Zeitung La Croix berichtet, war die Schließung der ‚Krippe‘ nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Mit Blick auf den mangelnden Zugang zu Nahrung, Wasser, Pflege und Unterkunft erklärte der Bischof: „Wir behandeln selbst Gegenstände besser. In Frankreich werden die Rechte von Haustieren besser respektiert als die von Migranten.“ Ausdrücklich wandten sich Fayet und Leborgne gegen die ständigen Räumungen und die ihnen zugrunde liegende sogenannte Null-Fixierungspunkte-Politik (Polizeitaktik zur Verhinderung verfestigter Campstrukturen durch sofortige und regelmäßig wiederholte Räumungen). „Es ist notwendig, diese Menschenjagd zu beenden“, forderte Fayet. Und in ihrem gemeinsamen Statement verlangen beide von den Behörden:
„Stehen Sie in der Kälte an, um zu essen. Laufen Sie drei Kilometer, um auf die Toilette zu gehen oder gehen sie zum Shuttlebus, um duschen zu können. Verstecken Sie ihre persönliche Habe in einem Stück Wald. Verstecken Sie sich, schlafen Sie in einem Zelt, wissend, dass die Polizei kommen und Sie vertreiben wird. […] Mit Rücksicht auf die republikanischen Prinzipien und unseren Glauben […] bitten wir die staatlichen Behörden, ein sofortiges Moratorium in Bezug auf die Räumung der Lebensorte zu erklären, geschützte Bereiche mit Zugang zur Grundversorgung zu schaffen und Notunterkünfte zu eröffnen.“
Einen Tag später äußerte sich Véronique Fayet auf ihrem Facebook-Account noch einmal und erinnerte an Gespräche, die sie in Calais mit Geflüchteten geführt hatte. „Schikanen, Menschenjagd, Verweigerung von Rechten … Worte können die unmenschliche und entwürdigende Behandlung der Exilierten nicht beschreiben! Sie habe ihre Wut und ihr Leid mit uns geteilt und wir wollen diesen Schrei weitergeben. Die ‚Null-Fixpunkte‘-Politik ist absurd, weil die Migranten hartnächig nach Calais zurückkehren. Wir müssen […] uns der Realität stellen: SIE SIND HIER!“ Deshalb, so verlangte sie, müssen alle in einen „Dialog“ treten: der Staat, lokale Mandatsträger_innen, Verbände, Kirchen und nicht zueltzt die Migrant_innen. „Wie wäre es, wenn wir es mit fraternité versuchten?“
Update, 25. März 2021:
Der Bischof und die Präsidentin von Secours Catholique haben ihre Anklage und ihre Forderungen inzwischen in einem Brief an den Präfekten bekräftigt.