Im Winter 2021 ließ die Stadt Calais eine von der katholischen Kirche eingerichtete Notunterkunft La Crèche (Die Krippe) für minderjährige Exilierte schließen. Als formale Handhabe dienten Brandschutzvorschriften, was zu der zynische Situation führte, dass die betroffenen Personen unter Verweis auf ihre Sicherheit in die Unsicherheit verdrängt wurden. Das Vorgehen hatte den Bischof von Arras, zu dessen Diözese Calais gehört, und die Präsidentin der französischen Caritas (Secours Catholique) zu einer scharfen Kritik am Umgang mit den Migrant_innen veranlasst (siehe hier und hier). Während die meisten der betroffenen Jugendlichen in einem anderen Gebäude untergebracht wurden und dort zumindest bis Pfingsten bleiben können, klagten der Diözesanverband und Secours Catholique gegen die Stadt Calais, um eine Wiedereröffnung der Crèche zu erreichen. Die Intervention scheiterte: Das Verwaltungsgericht Lille gab am 28. April 2021 der Stadt Calais recht.
Wie das Portal InfoMigrants berichtet, kam das Gericht zu dem Schluss, dass die Unterkunft keinen Notfallcharakter gehabt habe und ihre Schließung „kein Hindernis für die Bereitstellung von Unterkünften auf andere Weise“ gewesen sei. Gemeint waren damit die staatlichen centres d’accueil et d’examen de situation (CAES, etwa: Ankunfts- und Situationsprüfungszentren), in die Migrant_innen einerseits im Rahmen von Räumungen und andererseits im Rahmen eines freiwilligen Bustransfers gebracht werden. Allerdings liegen die CAES in einiger Distanz zu Calais und konterkarieren damit das eigentliche Anliegen der Migrant_innen, nämlich die Weiterreise nach Großbritanien. Sie sind genau die Unterkunftsform, aus der die Leute meist rasch wieder in ihre Zeltcamps zurückkehren – oder die sie pragmatisch nutzen, um einmal nicht im Zelt schlafen zu müssen. In der Argumentation der französischen Regierung spielen die CAES außerdem eine wichtige Rolle als humanitäre Flankierung ihrer extrem reprssiven Politik gegen die Camps.
Nach Ansicht des Gerichts, so InfoMigrants, „war die Crèche daher nicht unverzichtbar und reagierte nicht auf eine Notsituation“. Es hätten zwei CAES mit einer Kapazität von 170 Plätzen zur Verfügung gestanden, die während des Winters nicht überlastet gewesen seien. Das Gericht folgte damit der juristischen Argumentation der Stadtverwaltung.
Der Anwalt Lionel Crusoe, der die beiden kirchlichen Verbände vertrat, wies hingegen auf den unzureichenden Charakter des CAES-Systems hin. Die Bustransfers würden lediglich werktags um 9:30 Uhr durchgeführt; außerhalb dieser Zeiten bestehe keine Möglichkeit, in ein solches Zentrum zu gelangen. Genau auf diese Notstandssituation habe man mit der Einrichtung der Crèche reagiert.
„Wenn man abends oder am Wochenende in Calais ankommt, ist die einzige Option die Straße, und das Leben in einem Zelt ist nachts und am Wochenende nicht weniger hart“, zietiert InfoMigrants Juliette Delaplace, die bei Secours Catholique für die Exilierten im nordfranzösischen Küstengebiet zuständig ist. Zwar treffe es zu, dass die CAES nicht ausgelastet seien, aber sie seien insbesondere für Minderjährige ungeeignet. Zudem verwies Delaplace darauf, dass die Polizei die unabhängigen Vereinigungen der Flüchtlingshilfe in Calais abends und nachts anrufe, wenn sie Bootspassagiere aus dem Ärmelkanal gerettet habe, weil die Behörden nicht wüssten, wohin sonst sie diese schicken sollten.
Dem Anwalt zufolge hatte die Klage eine Anerkennung der Notstandsituation erreichen und damit die Schaffung zivilgesellschaftlicher Unterkünfte erleichtern sollen. Er ließ offen, ob die beiden kirchlichen Verbände Berufung gegen die Entscheidung des Liller Gerichts einlegen werden.