Gestern hat der in den französischen Medien als rechtsextremer Polemiker beschriebene Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour in Calais eine halbstündige Pressekonferenz zum Thema Migration und Europa gegeben und sich anschließend mit dem Direktor des Hafens, Jean-Marc Puissesseau, sowie Vertretern einer Polizeigewerkschaft getroffen. An einem Aussichtspunkt auf einem ehemaligen Bunker griff er vor Journalisten den rechtsextremen Kampfbegriff des „Großen Austauschs“ auf, erklärte Calais zum „Symbol des fehlenden Schutzes für Europäer, Franzosen und der Einwohner von Calais“, die verunsichert seien angesichts von „Gewalt, Verbrechen, Schmutz, Elend und fallenden Immobilienpreisen“, und forderte die bereits in seinem Wahlprogramm formulierte Abschaffung des ius soli, der Familienzusammenführung sowie aller sozialen Rechte und staatlicher medizinischer Versorgung für Nicht-EU-Ausländer_innen. Als Replik auf den am gleichen Tag von Emmanuel Macron vor dem Europäischen Parlament gehaltenen Rede, warf er diesem vor, sein Europa sei „ohne Körper, ohne Kopf und ohne Seele“.
Begleitet wurden seine Auftritte von Protesten. Der genaue Ort wurde erst 30 Minuten vor Beginn bekanntgegebenen, der CRS sperrte die Zufahrtswege ab und abgesehen von akkreditierten Journalist_innen war keine Öffentlichkeit zugelassen. Dennoch gelang es drei Aktivist_innen mit einem Megafon, ihren Unmut kundzutun. Aurélien Taché, Abgeordneter aus Val d‘Oise und Gründer der Partei Les Nouveaux Démocrates, konnte ebenfalls das Gelände betreten und widersprach Zemmour vor laufenden Kameras. Auf den Straßen zum Veranstaltungsort protestierten mehrere Dutzend Menschen mit Plakaten.
Unbekannt blieb der Ort des Treffen mit dem Hafendirektor, zu dem es auf dessen Wunsch keinen Fototermin gab; allerdings sickerte durch, in welchem Restaurant in Marck das Treffen mit den Polizeigerkschafter_innen stattfand. Vor dem Restaurant versammelten sich ein gutes Dutzend Menschen mit Plakaten und riefen „Zemmour, hau‘ ab. Calais gehört Dir nicht.“ Zemmour verließ das Treffen nach kurzer Zeit durch einen Seiteneingang des Restaurants.
Während der Proteste vor dem Restaurant kam es zu einem Zwischenfall. Alberic Dumont, Betreiber des privaten Sicherheitsdienstes ULTREIA und stellvertretender Vorsitzender der in weiten Teilen rechtsextremen und rechtskatholischen, gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe („Ehe für alle“) in Frankreich gerichteten Manif pour tous („Demonstration für alle“), attackierte eine Demonstrantin und versuchte sie vom Bürgersteig zu schubsen.
Zemmours Inszenierung in Calais dürfte von seinem Sprecher Antoine Diers initiiert worden sein. Er ist ehemalige Büroleiter der Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart, die sich im übrigen geweigert hatte, Zemmour zu empfangen. Da eine Beteiligung oder ein Austausch mit Einwohner_innen von Calais erst gar nicht vorgesehen war, scheint sich der Auftritt vor allem an die Zielgruppen seiner Social-Media-Kampagne gerichtet zu haben. Bereits drei Minuten, nachdem die Pressekonferenz begonnen hatte, fluteten Unterstützergruppen wie „Schüler für Zemmour“ die Kanäle der sozialen Medien mit hunderten unterstützenden Statements.
Das persönliches Highlight des Autors lieferte dabei der Twitter-Benutzer „Baron Julien“, der Zemmour attestierte: „Der hat Eier!“, denn „nach den Vierteln im Norden von Marseille, begibt sich Éric Zemmour in den Jungle von Calais“. Allerdings war der Standort der Pressekonferenz – vermutlich aufgrund der eindrucksvolleren Hintergrundbilder von der Anhöhe – ein alter Weltkriegsbunker, der nicht im großen Jungle, sondern nördlich davon liegt. Der große Jungle ist im übrigen im Jahr 2016 von den Behörden vollständig geräumt, planiert und renaturiert worden und seitdem menschenleer. Solcherlei zeitliche und örtliche Ungereimtheiten schienen aber bei der Inszenierung nicht zu stören, ebensowenig wie die Tatsache, dass Zemmour „zweifelsohne vergessen hat, dass die Migranten in Calais sich auf dem Weg nach Großbritannien befinden und im allgemeinen wenig geneigt sind, sich in Frankreich niederzulassen“, wie die Zeitung La Voix du Nord süffisant bemerkt.
Überraschen kann das nicht. Éric Zemmour und seine – aus Marketinggesichtspunkten extrem professionelle – Kampagne Reconquête! (Zurückeroberung) verbinden ohnehin das von Donald Trump bekannte Rezept, politische Konzepte zugunsten der Inszenierung auch unter Verwendung von Halbwahrheiten, Lügen und Fälschungen zurückzustellen, mit einem offen rechtsextremen Wahlprogramm, das im Falle seiner Umsetzung einem rassistisch motivierten Staatsstreich gleichkäme.
Neben der völligen sozialen Entrechtung von Menschen ohne Pass eines EU-Mitgliedslandes, will er mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts auch den Kreis der in Frankreich lebenden Menschen vergrößern, die ihr unterworfen wären, mit dem Ziel, eine Bevölkerungspolitik zu etablieren, die ein „für die Assimilation günstiges demographisches Kräfteverhältnis“ herstellt. Dass eine solche Politik gegen internationale Verpflichtungen ebenso wie französisches Verfassungsrecht verstoßen würde, ist ihm durchaus bewusst, daher gehört zu seinen fünf wichtigsten Prioritäten, diese Vereinbarungen zu kündigen oder gegenüber nationalem Recht nachrangig zu stellen, und die „Herrschaft der Richter“, also den Rechtsweg und damit den Rechtsstaat, zu beenden.
Calais ist für Zemmour nur ein Symbol, das angesichts der heute bereits existierenden, weitgehend sozialen Entrechtung der Exilierten zynisch anmutet. Wenn er davon spricht, dass Calais ein „Ort sei, der an Bilder und Tragödien erinnert, die wir nicht wieder sehen wollen“, dann ist das eine weitere Lüge. Er will sie im ganzen Land sehen, zudem in einem Frankreich, das weiß und christlich ist. Er wird nicht genug Leute vom Schlage Alberic Dumonts haben, um alle Menschen weg zu schubsen, die sich ihm dabei in den Weg stellen.