Die Räumungswelle im Kontext des symbolträchtigen Besuchs des neuen französischen Innenministers Gérald Darmanin in Calais am 12. Juli markiert eine Zäsur. Sie unterschied sich in ihrem Umfang und in ihrer Heftigkeit von vorausgegangenen Polizeiaktionen dieser Art und wiederholte im Kleinen die medienwirksam durchgeführte Räumung des bislang größten Calaiser Jungle im Oktober 2016. Daher möchten wir das Geschehen zwischen den Räumungen in der Zone Industrielle des Dunes am 10./11. Juli und des daraufhin in den Fokus gerückten Calypso-Camps am 17. Juli anhand der lokalen Berichterstattung sowie der Schilderungen zivilgesellschaftliche Initiativen rekonstruieren. Unserer Rekonstruktion liegen (noch) keine eigenen Recherchen vor Ort zu Grunde; sie ist daher als vorläufig anzusehen.
Donnerstag, 9. Juli
Beginnen wir mit dem Tag vor dem Beginn der Räumungen, wie er aus Sicht der Gruppen La Cabane Juridique / Legal Shelter, Utopia 56 und Human Rights Obervers verlief.
Wie diese in einem gemeinsamen Bericht darstellen, verbreitete sich an diesem Tag unter den Geflüchteten die Nachricht von einer bevorstehenden Räumung des Jungle. Am Nachmittag sei die Polizei in die Rue des Huttes im Industriegebiet Zone des Dunes gekommen, an der sich ein Großteil der Camps befindet, die in ihrer Summe als Jungle bezeichnet werden. Dabei wurden zwei Schriftstücke ausgehängt, mit denen das Gericht von Boulogne-sur-Mer am 12. Juni 2020 die Räumung der Parzellen BT 247 und 249 mit einer Fläche von 247 ha angeordnet hat. Am 9. Juni hatte ein Gerichtsvollzieher das Gelände aufgesucht und formal festgehalten, dass er unter den hunderten Bewohner_innen keine Personalien habe feststellen können, denn sie „sprachen in einem Dialekt, den ich nicht verstehe“. Diese Feststellung habe es dem Gericht erlaubt, die Räumung ohne die Anhörung der Betroffenen anzuordnen. Dieses Verfahren – Räumungsklage des Grundeigentümers, Aufsuchen des Ortes durch den Gerichtsvollzieher, Räumungsanordnung ohne Anhörung der Betroffenen, kurzfristig bekanntgegebene Räumung zu einem späteren Zeitpunkt, anschließend oft Einzäunung des Geländes – hat sich in den vergangenen Jahren in Calais immer dann etabliert, wenn ein Camp final geräumt werden soll (siehe hier und hier).
Die drei genannten Gruppen weisen darauf hin, dass manche Campbewohner_innen gehofft hätten, „dass die Räumung mit einer Legalisierung oder zumindest mit der Löschung ihrer ‚Dublin‘-Fingerabdrücke einhergehen würde, damit sie einen wirksamen Asylantrag in Frankreich stellen könnten.“ Für andere sei sie hingegen ein einfach nur Teil „der Schikanen“ gewesen, „die sie tagtäglich erleben“.
Freitag, 10. Juli
Dem Bericht von La Cabane Juridique, Utopia 56 und Human Rights Observers zufolge ging die am Morgen des 10. Juli beginnende Räumung weit über das gerichtliche Mandat hinaus, denn sie „missachtete alle Katastergrenzen, um sämtliche Camps, die sich in der Zone Industrielle des Dunes befinden, sowie andere Camps in Calais zu räumen“. Über das Vorgehen der Polizei schreiben die Gruppen:
„Es hat eine regelrechte Menschenjagd stattgefunden, bei der versucht wurde, die Migrant_innen verschwinden zu lassen, in dem man sie bereitwillig oder mit Gewalt in gecharterten Bussen an einen unbekannten Ort brachte. Ihre Habseligkeiten, ihre kostbaren Zelte, Schlafsäcke, Decken, Brennholz und all das Material, das für das Überleben dieser Männer und Frauen nützlich ist, wurden eingesammelt/beschlagnahmt und oft von einer Reinigungsfirma unbrauchbar gemacht, was die Lebensbedingungen noch unwürdiger machte.
Ab etwa 5 Uhr morgens riegelten Polizei, CRS und Gendarmerie den Jungle hermetisch ab. Die Lokalzeitung La Voix du Nord berichtet, das auch die Presse keinen Zugang erhalten habe. Während die Präfektur des Pas-de-Calais gegen 8 Uhr mitgeteilt habe, dass es während der Aktion keine besonderen Vorfälle gegeben habe, habe sich die Situation in einem eritreischen Camp des Jungle zugespitzt, als Gendarmen dort eindrangen. Offenbar floh ein Teil der Bewohner_innen auf das nahegelegene Areal des 2016 geräumten Jungle, während sich andere mit Steinen gegen die Polizei zur Wehr setzten, die mit CS-Gas (linken Aktivist_innen zufolge auch mit Gummigeschossen) reagiert und fünf Migranten festgenommen habe. Gegen 8:45 Uhr habe sich die Lage nach der Abfahrt der Gendarmerie beruhigt. Freiwillige Helfer_innen hätten die Bewohner_innen gedrängt, das Camp zu verlassen, was sie dann innerhalb weniger Minuten getan hätten. Die Vereinigungen der zivilgesellschaftlichen Flüchtlingssolidarität hätten daraufhin die Zelte in Sicherheit gebracht und dann die Verteilung von Mahlzeiten für die verbliebenen Migrant_innen in dem noch abgesperrten Gebiet vorbereitet.
Im Laufe des Vormittags wurde noch ein weiteres Camps geräumt, das sich außerhalb der Zone des Dunes (und des Jungle) bei der Mehrzweck-Sporthalle Salle Calypso im Stadtteil Mi-Voix befand. Die Räumung erfolgte nach Auskunft des Unterpräfekten von Calais auf Initiative der Stadtverwaltung. Dabei kam es am nahegelegenen Collège Martin Luther King zu einer Situation, die La Voix du Nord als „Katz- und Mausspiel“ zwischen jungen Migrant_innen und der Polizei beschreibt und in deren Verlauf mehrere Migrant_innen festgenommen wurden.
Einer Pressemitteilung der Präfektur des Pas-de-Calais zufolge wurden gegen Mittag insgesamt 519 Migrant_innen mit 16 Bussen in verschiedene Aufnahme- und Unterbringungszentren in der Region Hauts-de-France und anderen Landesteilen gebracht. Weitere 13 Personen, und zwar Familien und Minderjährige, wurden in speziellen Einrichtungen untergebracht und weitere 20 aufgrund ihres irregulären Status festgenommen.
La Cabane Juridique, Utopia 56 und Human Rights Obervers berichten weiter:
„So brutal diese Praxis war, so ineffizient war sie: Mittags waren einige Bewohner_innen schon wieder auf dem geräumten Gelände. Die während der Ereignisse vor Ort anwesenden Personen, die unter Beobachtung standen, sowie die Besetzer_innen wurden Zeugen einer regelrechten Menschenjagd. ‚Die Polizei verhaftet alle Migrant_innen, die sich dem Jungle nähern. Was bedeutet das? Ich dachte, sie würden nur die Zelte mitnehmen, nicht die Menschen. Warum ist das so?‘, fragt Mohammed, ein jemenitischer Staatsbürger (Der Vorname wurde geändert).“
Auch andere lokal tätige Organisationen wie Care4Calais (ihr Bericht siehe hier) und Salam hoben den gewalttätigen Charakter der Räumungen hervor. So sprach Yolaine Bernard (Salam) gegenüber der Plattform InfoMigrants von einer „Menschenjagd“ und berichtete, die Migrant_innen hätten keine Wahlmölglichkeit gehabt, ob sie in die Busse steigen oder nicht. Vielmehr seien sie „eingekreist worden wie Tiere und von den Behörden zum Einsteigen gezwungen worden“.
Was an diesem ersten Tag der Räumungswelle geschah, war der massivste Eingriff in die informellen Lebensorte der Migrant_innen seit Oktober 2016. Wie der Sender France 3 unter Berufung auf den Präfekten des Pas-de-Calais berichtete, geschahen die Räumungen nach „Zustimmung des Innenministers“ – des Politikers also, der Calais wenige Tage später besuchen und mit den Räumungen seine Stärke demonstrieren sollte. Am gleichen Tag veröffentlichte die rechtsextremen Oppositionspartei Rassemlement National (ehemals Front National) mit Blick auf den bevorstehenden Ministerbesuch eine Erklärung, in der sie die umgehende Umsetzung einer „Null-Migranten“-Politik in Calais forderte.
Samstag, 11. Juli
Die Räumungen setzten sich am nächsten Tag fort. Die britische Organisation Care4Calais hierzu:
„Today the police have returned for repeated and more violent action, firing tear gas at defenceless people and setting fire to tents. Fathers, children and friends are being separated in the panic. Vulnerable people are left with no shelter, no blankets and no food. We are hearing unconfirmed reports of people being arrested and imprisoned just to get them off the street. […] We’ve spoken with people who have gone the whole day without food or water. Tonight, the people left here are gathering together for safety and comfort. Many will sleep on the streets. People in Calais are terrified. The raids happen suddenly, without warning. One minute they are sleeping in their tents, the next they are bundled onto a bus and taken God knows where.“ (vollständige Erklärung hier)
Am gleichen Tag berichtete La Voix du Nord, wie Bürgermeisterin Natacha Bouchart den erst eine knappe Woche zuvor ernannten Innenminister empfangen wolle: „Sie wird ihn mit einem schweren Dossier des Migrationsproblems, das in Calais fortbesteht, in ihren Händen erwarten.“ Gemeint war, wie sich später herausstellen sollte, eine Zusammenstellung angeblich aller Beschwerden von Bürger_innen über bzw. gegen die Migrant_innen.
Sonntag, 12. Juli
Am frühen Morgen des Ministerbesuchs wird ein iranischer Migrant in der Nähe des Calaiser Bahnhofs von einem Auto überfahren und schwer verletzt. Ob es sich um eine gezielte Attacke handelte, ist offen, doch wird die zuständige Staatsanwaltschaft einige Tage später Ermittlungen in diese Richtung aufnehmen (siehe hier).
Die Bürgermeisterin empfing Innenminister Darmanin kurz nach Mittag vor dem Rathaus, danach traf er in der Unterpräfektur von Calais mit seiner britischen Amtskollegin Priti Patel zusammen und unterzeichnete eine zwischenstaatliche Vereinbarung über die Polizeizusammenarbeit bei der Bekämpfung von Schleusernetzwerken. Anschließend besuchten beide Minister_innen die Zone des Dunes, den Schauplatz der Räumungen. Allerdings gab Darmanin das zugehörige Interview (siehe Tweet unten) nicht dort, sondern auf dem einige hundert Meter entfernten Gelände des bereits 2016 geräumten und seitdem unbesiedelten Jungle. Nach gut zwei Stunden reiste der Minister wieder ab. (ausführlicher Bericht siehe hier)
Die drei Gruppen La Cabane Juridique / Legal Shelter, Utopia 56 und Human Rights Obervers verglichen die Räumungen mit der Schaffung eines Potemkinschen Dorfes. In der Tat fand der Besuch genau in jenem kurzen und flüchtigen Moment statt, in dem die Camps aufgelöst und ihre Bewohner fort zu sein schienen. Der Minister konnte seiner britischen Kollegin, die seit Längerem auf eine stärkere Bekämpfung der channel crossings (klandestine Bootspassagen über den Ärmelkanal) drängt, mit diesem Moment Stärke demonstrieren. Die Räumungen erschienen als wirksames Mittel zur Reduzierung der crossings, die mit etwa 180 Personen, die es erfolgreich an die englische Küste schafften, genau an diesem Tag einen neuen Höchstwert erreichten. In Wirklichkeit jedoch ist nach unseren Recherchen davon auszugehen, dass sich in den Calsier Camps eher diejenigen sammeln, die nicht die Mittel für diese vergleichsweise teuer gehandelte Passagetechnik besitzen. Wenige Tage nach dem Besuch sollte Patel der französischen Regierung in der Onlineausgabe der Daily Mail vorwerfen, Boote im französischen Hoheitsgewässer nicht ausreichend zurückzuhalten und die von britischer Seite geforderten Rückschiebungen zu blockieren.
Zugleich zeigt die Erfahrung früherer Räumungen sehr deutlich, dass ein Großteil der Migrant_innen rasch wieder zurückkehren und sich neue Camps bilden würden, wenngleich unter noch lebensfeindlicheren Bedingungen. So auch diesmal.
Montag, 13. Juli
Aus den Zentren, in die sie gebracht worden waren, sind die ersten Menschen wieder zurückgekehrt. Care4Calais schreibt über ihre Situation und über die Verknappung der verfügbaren humanitären Ressourcen:
„Hundreds of people were shipped as far as Marseille or Spain, and of course they have returned, walking for days with no food or sleep. But now they have absolutely nothing except their unbreakable will to survive. We have given out hundreds of sleeping bags, blankets, and tarpaulins. But this has decimated our stocks. […] We have given out hundreds of hot drinks, cakes and smiles to keep spirts up. We have driven round looking for those who are lost and don’t know where to do. But people are tired, confused and frightened. They don’t know when this will end.“
Mittwoch, 15. Juli
Infolge der Räumungen in der Zone des Dunes ist das schon erwähnte Camp an der Calypso-Halle im Stadtbezirk Mi-Voix auf die Größe von etwa 300 Personen gewachsen. Wie La Voix du Nord berichtet, wurde es am Morgen durch die Präfektur des Pas-de-Calais erneut geräumt. Wie bereits am 10. Juli, geschah dies auf Drängen der Bürgermeisterin, die die Verfestigung eines Camps in der Nähe der Sportstätte nicht dulden wolle, sowie aufgrund von Anwohnerbeschwerden.
„Später am Vormittag“, so die Zeitung weiter, „schien die Situation angespannt. Etwa sechzig Migranten wanderten mit ihren Habseligkeiten unter dem Arm durch das Gebiet zwischen Calypso, dem Collège Martin Luther King und der Avenue Toumaniantz.“ Dabei sei es zu kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen, was diese später bestätigte. Kurz danach seien dann die ersten Migrant_innen auf das Gelände zurückgekehrt, wo einige ihre Sachen zurückgelassen hätten. Eine freiwillige Helferin von Salam erklärte gegenüber der Zeitung:
„Sie wurden mit Gas bekämpft, vom Platz verwiesen, und eine Stunde später kamen die Leute zurück. […] Es ist nicht menschlich, sie auf diese Weise zu behandeln. Warum sollte man sie verjagen, wenn man sie danach wiederkommen lässt? Das ist Schikane. Diese Menschen sind über die ganze Stadt vertreut. Sie wissen nicht, worin sie sonst gehen sollen. Sie verstehen nicht, warum sie weggejagt werden.“
Am gleichen Tag veröffentlicht La Voix du Nord einen Artikel über Gespräche, die das Blatt am Vortag mit Anwohner_innen geführt hatte, die sich durch die Migrant_innen „genervt“ oder „bedroht“ fühlten. Sie beschwerten sich über die sichtbaren Folgen der prekären Lebensbedingungen („Sie ziehen sich vor uns aus, um sich zu waschen, sie kacken überall hin“), benannten einzelne Fälle von Fahrraddiebstählen und anderen Armutsdelikte und versteigen sich zu offenen Gewaltfanasien („Ich habe für den ersten, der zu mir nach Hause kommt, zwei Patronen eingelegt. Ich werde ins Gefängnis gehen, aber ich schütze meine Familie.“). Ein von der Zeitung als gemäßigt vorgestellter Anwohner nannte als Grund für die Empörung der Anwohner_innen einer nahegelegenen Straße, dass „sie alle dort vorbeigehen“. Man könnte dies geflissentlich übergehen, hätte nicht die Bürgermeisterin dem Minister drei Tage zuvor eine angeblich vollständige Sammlung von Anwohnerbeschwerden überreicht, um weitere Räumungen zugleich einzufordern und plebiszitär zu legitimieren.
Eine weitere Meldung dieses Tages betrifft die Festnahme eines Geflüchteten aus dem Sudan, der während einer Essensausgabe in der Zone des Dunes die Polizei beleidigt und gegen seine Festnahme rebelliert habe. Lakonisch merkte die Zeitung dazu an, dass „die Spannungen zwischen den Exilierten und der Polizei“ seit den verschiedenen Räumungen „groß“ seien.
Donnerstag, 16. Juli
Am späten Mittwochabend kontaktierte Bürgermeisterin Bouchart zunächst den Präfekten und dann gegen Mitternacht das Büro von Innenminister Darmanin, um eine Räumung des Calypso-Camps zu erreichen. Wie sie La Voix du Nord danach erklärte, habe das Ministerbüro die Räumung für Freitag sowie die Entsendung einer zusätzlichen CRS-Kompanie für die Überwachung des Gebiets um die Calypso-Halle zugesagt.
Auf die Räumungswelle vom 10./11. Juli sollte also eine zweite Folgen. Um diese zu flankieren, versuchte Bouchart auch die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen dazu zu bewegen, die humanitäre Hilfe zu unterlassen: „Wir haben Salam und Auberge des migrants angerufen, um sie zu bitten, die Verteilung von Mahlzeiten in Calypso einzustellen. Durch diese Verteilung verursachen sie selbst Vorfallsituationen. Wenn das ihnen nicht passt, lade ich sie ein, sich an die Regierung zu wenden,“ so Bouchart im Interview.
Die Bürgermeisterin kündigte darin außerdem einen erneuten Besuch Darmanins an, der „ohne jegliche Presse“ offenbar nach den bevorstehenden Räumungen stattfinden und womöglich eine konservative Allianz zwischen den lokalen und nationalen Akteuren gegen die Camps festigen soll. Bopuchart sagte in diesem Zusammenhang, dass in Aufnahme- und Unterbringungszentren 700 Plätze frei geworden seien und weitere frei werden könnten. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die erforderlichen Kapazitäten für Räumungen in einem noch größeren Umfang zur Verfügung.
Freitag, 17. Juli
La Voix du Nord meldet die Räumung des Calypso-Camps, nachdem es eine Woche lang zum Ausweichort für die geräumten Camps des Jungle geworden war. Die Räumung sei vom Innenminister nach der Intervention der Bürgermeisterin angeordnet worden.