Am 10. Dezember 2024 leiteten die Innenministerinnen Großbritanniens und Deutschlands, Yvette Cooper und Nancy Faeser, in London das vierte Treffen der Calais Group. Das Gremium besteht aus den Fachminister_innen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und der Niederlande sowie Vertreter_innen der Europäischen Kommission, Frontex und Europol. Erstmals legte die Gruppe der fünf Länder einen Prioritätenplan für das kommende Jahr vor. Ergänzt wird er durch eine erste bilaterale Vereinbarung zwischen London und Berlin (siehe hier). Allerdings machen die Regierungskrisen in Frankreich und Deutschland die Grenzen dieses Formats sichtbar.
Der Prioritätenplan der Calais Group bestätigt den Eindruck, dass die Regierung Starmer diesem multilateralen Format eine höhere Bedeutung zumisst als die konservativen Vorgängerregierungen. Die Gruppe der fünf Staaten fungiert nun einerseits als Baustein einer Internationalisierung der small boats-Thematik, die wiederum auf Organisierte Kriminalität verengt wird. Andererseits synchronisiert sie nun stärker die bilateralen Verhandlungsprozesse Großbritanniens mit Deutschland und Frankreich. Verliefen die regelmäßigen britisch-französischen Verhanhandlungen über Grenzsicherheit und Migrationsabwehr bislang in einem anderen Turnus als die Calais Group, so war in diesem Jahr offenbar ein französisch-britisches Zusammentreffen unmittelbar vor der Calais Group an der nordfranzösischen Kanalküste vorgesehen, dass dann wegen der Pariser Regierungskrise nicht stattfand. Mit Deutschland bestand ein vergleichbares Verhandlungsformat bislang überhaupt nicht.
Der Calais Group Priority Plan on Countering Migrant Smuggling for 2025 – so der vollständige Titel des Dokuments – würdigt zunächst die Ermittlungsarbeit der europäischen Polizei- und Justizbehörden Europol und Eurojust sowie der Behörden der fünf Länder. Dabei beziehet sich die Gruppe indirekt auf die Razzien gegen ein kurdisch-irakisches Netzwerk mit Schwerpunkt in Deutschland weniger Tage vor dem Londoner Treffen (siehe hier).
Der Plan benennt fünf Prioritäten mit dem gemeinsamen Ziel, das Geschäftsmodell sogenannter „organised crime groups“, kurz OCGs, zu zerschlagen und kriminelle Akteur_innen vor Gericht zu bringen. Die Zielsetzung ähnelt dem neuen britisch-deutschen Aktionsplan, ist jedoch konkreter ausformuliert als dieser. Die Prioritäten sind:
- „Coordinate preventative communications to realise upstream disruption in source and transit countries“: Ziel ist eine „sensibilierende Kommunikationskampagne“ (awareness rising communication campaign), um Migrant_innen in Herkunfts- und Transitländern dazu zu bewegen, keine Gelder an OCGs zu zahlen. Solche strategischen Kommunikationskampagnen gehören seit dem Aufkommen der Kanalroute zum Repertoire des britischen Innenministeriums. Zeitweise betrieb dieses sogar eine anonyme Website, die den Eindruck erweckte, einer zivilgesellschaftlichen Initiative zu gehören (siehe hier). Der Prioritätenplan der Calais Group sieht nun vor, mit Ländern auf dem West-Balkan, in Asien, im Mittleren Osten und in Nord- und Ostafrika zusammenzuarbeiten. Anfang 2025 sollen die Länder der Calais Group eine Pilotregion hierfür festlegen.
- „Strengthen enforcement capability and law enforcement cooperation through Europol to enhance targeting and disruption of prominent OCGs and their criminal supply chains“: Das zweite Ziel umreisst das Kernstück des Ansatzes, nämlich die gemeinsame Strafverfolgung von Schleusergruppen und die Zerschlagung ihrer Lieferketten mithilfe von Europol. Hierfür benennt das Papier drei Punkte. An erster Stelle steht die „Sicherstellung eines wirksamen und robusten Rechtsrahmens, der die Lieferkette für small boats kriminalisiert“ und so eine „wirksame Unterbrechung ihrer Lieferketten“ etwa durch die Beschlahnahmung von Bootsausrüstung ermöglicht. Dieser Punkt ist nicht trivial, denn er dürfte auf eine bestehenden Regelungslücke im deutschen Strafrecht abzielen, die Herstellung, Import und Handel mit Schlauchbooten für die Kanalroute faktisch zulässt, sofern nicht andere Straftatbestände damit einhergehen. Die beiden anderen Punkt betreffen den gegenseitigen Informationsaustausch, auch über Europol. Ausdrücklich werden „kurdisch/irakisch Gruppen der Organisierten Kriminalität, die an der Schleusung von Migranten nach und durch Europa beteiligt sind“, als Ziel benannt. Diese Gruppen sind außerdem Gegenstand kürzlich geschlossener Abkommen der britischen Regierung mit der irakischen Zentral- und der irakisch-kurdischen Regionalregierung (siehe hier).
- „Disrupt OCGs use of illicit finance through joint research and analysis to generate valuable tactical intelligence to enhance targeted preventative and investigative activity“: Der Punkt zielt auf finanzielle Transaktionen bei kommerziellen Schleusungen, aber auch in einem allgemeineren Sinne auf die Bekämpfung des Hawala-Bankwesens. Die Partnerstaaten sollen in Zusammenarbeit mit Europol ihre Instrumentarien bündeln und weiterentwickeln, um Transaktionen zu unterbinden und Gewinne zu beschlagnahmen.
- „Tackle OCGs use of social media to recruit and advertise dangerous journeys across Europe and the Channel“: Die Staaten der Calais Group einigen sich auf einen gemeinsames Vorgehen gegen die Werbung für Schleusungen auf Social Media-Plattformen – auch dies ein Ansatz, den Großbritannien seit Längerem verfolgt.
- „Explore the possibilities to enhance operational and technical cooperation, collectively and with other relevant partners such as Frontex, to tackle irregular migration“: Dieser letzte Punkt bringt als einziger Frontex ins Spiel, das seit dem ersten Treffen der Calais Group 2021 mit der Operation Opal Coast an der nordfranzösischen Kanalküste präsent ist. Hervorgehoben wird der „rechtzeitige gegenseitige Austausch sachdienlicher Informationen über Migrationsströme nach und durch Europa sowie über andere vorrangige Fragen im Zusammenhang mit der Grenzsicherheit“. Allerdings belassen die fünf Staaten es bei dieser vagen Aussage.
Der Prioritätenplan schreibt also vor allem bestehende Ansätze fort und bettet sie in einen multilaterialen Rahmen ein, in dem Deutschland eine erkennbar größere Rolle spielen wird. Gleichwohl sind die Grenzen dieser Politik sichtbar. So steht eine Vereinbarung Großbritanniens mit der EU über die Regelung migrationspolitischer Fragen nach wie vor aus, was auch eine politisch aufgewertete Calais Group nicht kompensieren kann.
Überschattet wird der Prioritätenplan außerdem durch die Regierungskrisen in Deutschland und Frankreich. Es ist unwahrscheinlich, dass die deutsche Minderheitsregierung vor den Neuwahlen das aus britischer Sicht bestehende Problem der teil-legalen Lieferketten angehen wird, und auch für eine künftige Bundesregierung dürfte dies ein nachrangiger Punkt sein. Hemmend dürfte sich auch die französische Krise auswirken. Als Innenminister Retailleau vor dem Londoner Treffen die Kanalküste besuchte, ohne dort seine britischte Amtskollegin zu treffen, äußerte er sich im Sinne einer Gruppe regionaler Bürgermeister_innen. Diese hatten im Vorfeld für eine gravierende Verschärfung des Grenzregimes geworben, Eingriffe in die britische Innenpolitik gefordert und eine Neuaushandlung des Abkommens von Le Touquet aus dem Jahr 2003 verlangt, das den Kern des britisch-französischen Grenzregimes bildet (siehe hier). Retailleau mag damit einen populistischen Diskurs bedienen, aber ein Politiker in seiner Situation dürfte kaum in der Lage sein, eine solche Agenda durchzusetzen.