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Calais

Vor der Epidemie – Calais im Februar 2020

7.-8. Februar 2020 [Recherche], 22. März 2020 [Artikel]

Wir besuchten Calais zuletzt am 7./8. Februar 2020 und haben daher ein eigenes Bild von der Situation einige Wochen bevor Corona zum alles beherrschenden Thema wurde. Zum Zeit unseres Besuchs hingegen sprach noch niemand davon.

Neu errichteter Zaun entlang der Route de Gravelines, Februar 2020 (Foto: Thomas Müller)

Was als erstes auffiel, waren Zäune. Nicht die wohlbekannten Landschaften weißer Hochsicherheitszäune an den Verkehrsanlagen, sondern ein System robuster grüner Zäune rund um das Gebiet der Camps.

Zum ersten Mal hatten wir solche Zäune 2017 gesehen. Zunächst entstanden wie Fragmente an wenigen, von den Migrant_innen und Hilfsorganisationen genutzten Stellen der weitläufigen Zone Industrielle de Dunes – des Industriegebiets, in dem sich auch heute der Jungle befindet. Danach entstanden um zwei von Camps geräumte Areale Zäune gleicher Bauart. Jetzt, Anfang 2020, ist eine neue Struktur sichtbar geworden. Neue Zäune umgeben auf einer Länge von 1,2 Kilometern das schmale Wald-, Busch- und Brachgebiet entlang der Route de Gravelines und der Rue des Huttes, in dem sich ein großer Teil der Zeltcamps befindet. Die Zäune sind etwa drei Meter hoch, eine Betonplatte verlängert ihn etwa 30 cm in den Boden hinein. Die Rodung des Randstreifens und Ausdünnung des verbliebenen Wald- und Buschgebietes hat dafür gesorgt, dass die Migrant_innen – hinter dem Zaun – nun von außen sichtbar sind. Binnenzäune separieren das Areal nun parzellenartig, und breite Tore beschränken den Zugang zu den Segmenten auf einen definierten Punkt. Diese Architektur erzeugt unwillkürlich den Eindruck eines Geheges.

Außen- und Binnenzaun (mit Tor und gerodeten Streifen) im Gelände des Jungle, nahe Route de Gravelines, Februar 2020 (Foto: Thomas Müller)

Der Zweck der Zäune war nicht klar. Sollten sie die Camps in diesem Gebiet dauerhaft unterbinden? Anstrengungen zur Schaffung einer Unterbringung der 900 bis 1000 größtenteils im Jungle lebenden Menschen waren aber weder sichtbar noch bekannt. Sollten sie ein System der Einhegung, Raumzuweisung und Kontrolle etablieren? Die weitere Beobachtung wird es zeigen, was jedoch bereits deutlich wurde, war die weitere Verunsicherung der Migrant_innen über das, was geschehen wird.

Aus Gesprächen mit der Gruppe Human Rights Obervers und mit Bewohner_innen des Jungle sowie einer Auswertung der veröffentlichten Quellen ergab sich, dass der Jungle seit Jahresbeginn tatsächlich einmal täglich geräumt wird, und zwar vollständig. Am Morgen des 8. Februar konnten wir dies beobachten: Der am Vorabend von Zelten gefüllte Raum hinter dem Zaun entlang entlang der Rue de Gravelines war vollständig leer. Als wir in die Route des Huttes – eine kleine Seitenstraße, die das Zentrum des Jungle durchquert – kamen, standen die Zelte dort dicht an dicht auf der Straße. Die Zelte mussten von den Migrant_innen selber dorthin getragen werden. An einer von den Behörden eingerichteten Anlaufstelle mit Getränkeausgabe, Trinkwasser, Strom und Sanitäranlagen warteten die Migrant_innen auf das Ende der Polizeiaktion, die am anderen Ende der Straße gerade ihren Abschluss fand. Gendarmerie und CRS räumten dort noch die letzten, besonders prekären Camps afrikanischer Migrant_innen. Alles verlief routiniert, zu den oft berichteten Gewaltexzessen war es an diesem Tag nicht gekommen. Danach zog die Polizei ab und die Bewohner_innen trugen ihre Zelte zurück. Als eine tägliche Routine verhindert dies die Verfestigung der Zeltcamps zu Hüttensiedlungen mit rudimentären Infrastrukturen, wie es sie ihn früheren Jungles gegeben hatte. Darüber hinaus wirkten sie offenkundig demütigend und zermürbend. Nicht zuletzt entzogen sie aufgrund ihrer mehrstündigen Dauer und der zum Wiederaufbau erforderlichen Arbeiten die Möglichkeit zu ausreichendem Schlaf. In den Jungles wird oft vormittags geschlafen, da nachts versucht wird, einen Platz in einem Lkw nach Großbritannien zu finden.

Außer der genannten Anlaufstelle stellten die Behörden einige Dixiklos zur Verfügung; einmal täglich gab es einen Bustransfer zu Duschen; weiterhin einen Bustransfer zu Aufnahmezentren außerhalb der Region. Diese stehen im Mittelpunkt der staatlichen Politik, die den Zugang zu humanitären Standards und rechtlichen Verfahren an das Verlassen des Grenzraumes koppelt. Eine in den vergangenen Jahren bestehende Winterunterkunft für Frostnächte wurde im Winter 2019/20 nicht wieder eingerichtet. Mit 900 bis 1000 Personen ist die Anzahl der Migrant_innen im Winter auf den höchsten Wert seit 2016/17 gestiegen. Die Zahl der Neuankömmlinge ist hoch. Gleichzeitig, so hörten wir, weichen viele an Orte des Hinterlandes oder weiter ins Landesinnere aus, kämen jedoch meist rasch zurück, wenn es dort keine Unterstützungsstrukturen wie in Calais gäbe.

Exemplarisch für die Lage im Jungle ist ein Gespräch, das wir mit vier jungen äthiopischen Männern führten. Diese hatten zuvor in Hessen, Bayern bzw. der Schweiz gelebt. Einer der Männer war bereits seit dem 3. August 2019 im Jungle. Die Polizei, so berichteten sie übereinstimmend mit den Dokumentationen der Human Rights Obervers und anderer Beobachter_innen, setze häufig Tränengas ein, wodurch viele Augenkrankheiten hätten. Er selbst kenne an die 100 Betroffene. Die Polizei nehme auch im Winter morgens Schlafsäcke und Decken weg. Sie schlüge die Leute manchmal mit Schlagstöcken. Unser Gesprächspartner nahm an, dass Schlagstöcke mit Metallkern im Einsatz seien, was die schon häufiger dokumentierten Fälle von Knochenbrüchen nach dem Schlagstockeinsatz erklären würde. Ein großes Problem sei, dass „sie einen nicht schlafen lassen“. Unser Gesprächspartner wies darauf hin, dass im Jungle auch Kinder und ältere Personen lebten, zudem viele Kranke, was auch für uns völlig offensichtlich war. Viele hätten psychische Probleme oder tränken Alkohol, insgesamt, so schätzte er, beträfe dies etwa die Hälfte. Auch dies, eine Art Kirre-Sein und eine allgemeine, dadurch bedingte Anspannung, war für uns unmittelbar erkennbar. Wegen der Räumungen wisse niemand, wie es weitergehe. „Mal heißt es so, mal so“. Von hier über die Grenze zu kommen, sei so gut wie unmöglich.

Während des Gesprächs zeichnete ein Junge aus der Gruppe mit einem Fläschchen Nagellack eine Aussage auf einen Bordstein. Es war, wo in meiner Interpretation als Fremder, ein Akt intellektueller und ästhetischer Selbstbehauptung. Knowledge is getting a friend.

Während unseres Besuchs fürchteten sowohl die Helfer_innen als auch die Bewohner_innen des Jungle den angekündigten Sturm Chiara, in Deutschland bekannt Sabine, dem weitere schwere Stürme in der Kanalregion folgen sollten. Videos zeigten die Wirkung auf ein Zeltcamps auf Asphalt, der keine Verspannung der Zelte am Boden zuließ.

Mit Blick auf die jetzt aktuelle Corona-Pandemie lässt sich sagen, dass die Bedingungen im Jungle und die Routinen, mit denen sie im Wortsinne täglich reproduziert werden, die Anfälligkeit der Menschen für Infektionen multiplizieren. Am Vorabend der Seuche begegneten wir in Calais einer bereits von physischer und psychischer Krankheit und Verletzung geprägten Gruppe, die zum größten Teil aus den politisch geschaffenen Bedingungen und der ausgeübten Gewalt resultierten und die gegenüber der „normalen“ Außenwelt wie Tiere in einem Gehege durch einen Zaun getrennt wurde.