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Calais Corona

Beginn einer humanitären Katastrophe

Für die Migrant_innen in Calais kündigt sich immer mehr eine humanitäre Katastrophe an. Wir fassen einige Entwicklungen der vergangenen drei Wochen zusammen.

Die Regionalzeitung Voix du Nord berichtete am 6. März 2020 über erste Gespräche zwischen dem Unterpräfekten von Calais Michel Tournaire und humanitären Hilfsorganisationen am Tag zuvor. Ziel war es, eine Lösung für die Migrant_innen während der Corona-Epidemie zu finden. Die Ratschläge des Unterpräfekten konnten jedoch allenfalls als zynisch bewertet werden. Er empfahl den Bewohner_innen des Jungles u.a. regelmäßiges Händewaschen. Hierfür plane der Staat an der Route de Saint-Omer und Rue des Huttes, wo Duschen installiert sind, eine regelmäßige Versorgung mit Seife. Die in den letzten Jahren während der Wintermonate zur Verfügung gestellten Notunterkünfte sollten nicht wieder bereitgestellt werden, sodass die Menschen auch während der Epidemie auf der Straße, d.h. im Jungle und anderen Camps, leben müssen. Francois Guennoc von der zivilgesellschaftlichen Organisation Auberge des Migrants bezeichnete die Pläne des Unterpräfekten als „völlig ungeeignet“. Die Vereinigung Utopia 56 forderte u.a. die Unterbringung in kleinen Gruppen und einen Stopp der täglichen Räumungen des Jungle (siehe hier). Diese Vorschläge wurden abgelehnt.

Die Auberge des Migrants und Utopia 56 kommentierten die Ergebnisse bitterböse in einer gemeinsamen Pressemitteilung:

Diese Tipps sind jedoch völlig unzureichend für die tatsächliche Situation der Exilierten: Sich vor und nach den Mahlzeiten die Hände mit Seife waschen und mit einem sauberen Handtuch abwischen, enge Kontakte vermeiden. Menschen mit Symptomen (Husten, Fieber, Atembeschwerden) müssen die 15  [eine Notrufnummer, d. Red.] anrufen (in welcher Sprache?). Wenn die 15 ein Team an den Ort schickt, um die Person abzuholen, welche Adresse soll man angeben, um sie ins Krankenhaus von Boulogne-sur-Mer zu bringen? Wenn die Person nur geringe Symptome hat, soll sie nach Hause gehen (?) und in einem Einzelzimmer untergebracht werden (?).

Die Exilierten leben unter Bedingungen, die das Auftreten und die Verbreitung von Infektionskrankheiten begünstigen (Kälte, Feuchtigkeit, Stress, Müdigkeit, Zusammenpferchen in leichten Zelten, wegen der Entfernung der Zelte durch die Polizei, Mangel an sauberer und trockener Kleidung). Das Coronavirus könnte bereits erkrankte Personen stark beeinträchtigen (Bronchitis, Rhinopharyngitis …). Die freiwilligen Helfer_innen sind weder ausgebildet noch ausgerüstet, um Symptome zu erkennen und die Exilierten zu beraten.“ [Eingeklammerte Fragezeichen im Original]

Somit stehen die humanitären Hilfsorganisationen vor großen Herausforderungen. Da sie den mit Abstand größten Teil der Unterstützung für die Migrant_innen bieten, sind diese auf ihre Versorgungsleistungen angewiesen. Die Bewältigung der Aufgabe wird jedoch immer schwieriger. So berichtete Claire Mosley, Gründerin von Care4Calais, am 18. März 2020 im britischen Independent von einem starken Rückgang der freiwilligen Helfer_innen. Ihr zufolge waren beispielsweise am 17. März 2020 nur drei statt der sonst üblichen 30 volunteers vor Ort. Mosley befürchtet auch, dass aufgrund der Ausgangssperren in Frankreich das von der Organisation betriebene warehouse geschlossen werden müsste.

Die drei Organisationen Care4Calais, Auberge des Migrants und Secours Catholiques betreiben jeweils eine solche Einrichtung, in der Hilfsgüter angenommen und für die Verteilung vorbereitet sowie weitere Hilfeleistungen durch volunteers zusammengefasst werden. Die warehouses sind zudem die organisatorische Basis der von mobilen Teams durchgeführten Verteilungen von Lebensmitteln, Hygienewaren und anderer Grundversorgung an den Camps und Treffpunkten der Migrant_innen.

Die konservative Bürgermeisterin von Calais Natacha Bouchart verfolgt seit ihrer Wahl 2008 eine repressive Linie gegenüber den Migrant_innen und untermalte diese immer wieder mit populistischen Statements und Initiativen. Unmittelbar nach ihrer Wiederwahl – sie hatte am 15. März bei der ersten Runde der französischen Kommunalwahl 50,24% der Stimmen erhalten – veröffentlichte sie am 20. März 2020 folgende Presseerklärung:

„Bereits am Montag, den 16.03. habe ich den Behörden vorgeschlagen, leer stehende Militärbasen zu beschlagnahmen, deren Kasernen innerhalb kurzer Zeit wieder so eingerichtet und ausgestattet werden könnten, dass die Migranten und Migrantinnen, die sich zurzeit in Calais und Umland aufhalten, unter guten Bedingungen in Bezug sowohl auf Ausgehverbot als auch auf humanitäre Begleitung aufgenommen werden könnten.

Am Dienstag, 17.03. habe ich diesen Vorschlag ergänzt, und zwar durch die Nennung von zwei leerstehenden Fliegerhorsten, die ziemlich abgelegen und in einer angemessenen Entfernung zum Raum Calais liegen.

Bis jetzt ist – trotz wiederholter ‚Hilferufe‘ meinerseits – dieser Vorschlag unbeantwortet geblieben.

Seit der Verabschiedung des ‚Eilgesetzentwurfes zur Bekämpfung der COVID-19-Epidemie‘, dessen Artikel 2 besagt, dass der sanitäre Notstand ausgerufen werden kann, verfügt der Staat über die juristischen Mittel, womit er meinen Vorschlag umsetzen könnte.

Folglich bitte ich hiermit um eine schnelle Reaktion seitens des Staates bzw. der betreffenden Behörden.

Es geht hier um die sanitäre Sicherheit der gesamten Bevölkerung.“

Ihr Vorschlag zielt auf eine Räumung aller Camps, die Evakuierung ihrer Bewohner_innen und deren Isolation abseits von Calais. Damit erinnert er an den Herbst 2016, als nach der Räumung des bislang größten Jungle der Eindruck einer tabula rasa erzeugt wurde. Tatsächlich waren damals bereits nach kurzer Zeit die ersten Menschen zurückgelehrt und hatten sich in einer so prekären Situation wie seit vielen Jahren nicht mehr wiedergefunden. Boucharts Vorschlag würde die Möglichkeit eröffnen, dem damals verfehlte Ziel eines Calais ohne Migrant_innen mit den Mitteln des „sanitären Notstandes“ näher zu kommen. Fraglich wäre dabei nicht zuletzt, wie die „humanitäre Begleitung“ einer solchen Maßnahme aussehen sollte. Bisher verweigert sich die zuständige Präfektur konstruktiven Gesprächen mit den Hilfsorganisationen.

Claire Millot von der Organisation Salam kritisierte am 20. März 2020 auf dem Sender France 3, dass die regelmäßigen Räumungen der Camps nach wie vor stattfänden, obwohl hierdurch das Infektionsrisiko erheblich erhöht werde.

Es ist dringend erforderlich, dass auch in Calais die Migrant_innen staatlicherseits geschützt werden. In einigen anderen Regionen Frankreichs passiert dies schon. So berichtet die Auberge des Migrants am 21. März 2020 über Facebook aus der Hafenstadt Ouistreham nahe Caen in der Normandie, die von Migrant_innen seit einigen Jahren ebenfalls als Ausgangspunkt für die Überquerung des Ärmelkanals genutzt wird:

„Die Exilanten müssen beherbergt und geschützt werden! In Ouistreham (Caen) sind die etwa sechzig in der Stadt lebenden Exilierten derzeit in einem Ferienzentrum untergebracht, das zu diesem Anlass vom Roten Kreuz verwaltet wird, das sich etwa zwanzig Kilometer von Ouistreham entfernt befindet. Vier oder fünf der Exilierten waren zuvor zu einem Besuch des Ortes eingeladen worden, um dann den anderen davon zu erzählen.“

In Calais und Grande-Synthe müssen Migrant_innen nach wie vor in Camps leben. Durch weitere Repressionen wird ihre Situation noch verschlimmert. Laut dem Blog Passeurs d‘hospitalités vom 20. März 2020 hätten die Migrant_innen seit einigen Tagen in Calais keinen Zugang mehr zu elektrischem Strom. Eine Versorgung bestehe nur noch durch von zivilgesellschaftlichen Organisationen bereit gestellten Generatoren. Die Stromversorgung für Smartphones, die die einzige Informationsquelle über die Epidemie für die Miogrant_innen sind, ist somit nicht mehr sichergestellt.

Die Versorgung der Migrant_innen in Calais ist mehr und mehr gefährdet. So kündigte die zivilgesellschaftliche Initiative Refugee Commuinity Kitchen (RCK), die bereits seit 1515 Tagen Migrant_innen in Calais, Dünkirchen und Brüssel mit warmen Mahlzeiten versorgt, am 24. März 2020 über die Facebook-Seite der Auberge des Migrants an, diese Versorgung in den nächsten drei Wochen vorübergehend auszusetzen, um die Volunteers und die Migrant_innen vor dem Corona-Virus zu schützen. So schnell wie möglich möchte die Initiative jedoch die Versorgung wieder aufnehmen.