Mehr MigrantInnen als je zuvor haben in der ersten Hälfte des Jahres den Ärmelkanal per Boot überquert – ungeachtet britisch-französischer Abkommen dies zu verhindern. Während populistische Scharfmacher und besorgte Patrioten für mehr Abschottung trommeln, hat das britische Home Office begonnen einen Plan umzusetzen um Bootsflüchtlinge zurück nach Frankreich zu schicken. Viel von ihm ist nicht bekannt. Die Spurensuche beginnt mit einem rätselhaften Namen. Zweiter Teil.
Lily Parrott von der Londoner Anwaltskanzlei Duncan Lewis Solicitors, früher Managerin beim Refugee Service des Britischen Roten Kreuz, übte in einem Guardian-Artikel im Mai scharfe Kritik an den Bestrebungen des britischen Innenministeriums, Bootsflüchtlinge rigoros nach Frankreich abzuschieben.
Per e-Mail reagiert Lily Parrott auf unsere Fragen. Vorab: Auch sie weiß nicht, was der Name ‚Sillath‘ bedeuten soll. “Zusammengefasst: Wir sind uns immer noch nicht hundertprozentig sicher, was Operation Sillath ist, da wir keine vollständige Antwort vom Innenministerium erhalten haben, aber nach dem, was wir bisher wissen, handelt es sich um ein Innenministerium-Label und/oder -Team, das sich mit Menschen beschäftigt, die mit kleinen Booten oder Schlauchbooten nach Großbritannien gekommen sind. Was wir gesehen haben, ist, dass das Innenministerium versucht, manche Personen, die mit Booten ankommen, nach Frankreich zu bringen, wenn es Beweise oder Hinweise darauf gibt, dass sie sich fünf Monate oder länger in Europa (irgendwo in Europa oder sogar an einem unbekannten EU-Standort) befunden haben.”
Rechtliche Grundlage, so Lily Parrott, ist das Dublin-Abkommen. “Das Innenministerium beruft sich auf Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung, wonach Personen aufgrund von Indizien, dass sie sich seit mehr als fünf Monaten in diesem Land aufhalten, in ein anderes EU-Land gebracht werden können. Wir glauben, dass ‚method of arrival‘, d. h. die Ankunft mit dem Boot im Vereinigten Königreich, als Indizienbeweis im Sinne von Artikel 13 Absatz 2 angesehen wird. Normalerweise wurden in einem anderen EU-Land keine Fingerabdrücke genommen oder Asylanträge gestellt, da dann Artikel 13 Absatz 1 des Dubliner Übereinkommens Anwendung finden würde. Artikel 13 Absatz 1 ist die übliche Art und Weise, wie Menschen von einem EU-Land in ein anderes gebracht werden.” Später merkt sie noch an: “Wir befürchten, dass der Prozess der Abschiebung von Personen im Rahmen des Dubliner Übereinkommens durch Operation Sillath beschleunigt werden könnte.”
Was ihr an diesen Entwicklungen Sorgen bereitet, beschreibt sie so: “Wir sind besorgt, dass diese Abschiebungen auf der Grundlage einer nicht offengelegten und rechtswidrigen Richtlinie und/oder Vereinbarung erfolgen. Wir haben Beweise dafür gesehen, dass das Innenministerium eine Richtlinie für die Ankunft kleiner Boote hat, aber wir haben die Richtlinie selbst nicht gesehen. Wir haben Daten des Innenministeriums gesehen, aus denen hervorgeht, dass Personen aufgrund von Art. 13 Abs. 2 Dublin aus dem Vereinigten Königreich gebracht wurden, und dass das einzige Land, in das sie gebracht wurden, Frankreich ist.”
Der besagte Guardian-Artikel ließ im Unklaren, ob die Operation bereits begonnen hat. Lily Parrott tendiert deutlich zu Ersterem: “Wir sind uns ziemlich sicher, dass es implementiert wird, da wir bei den Akten einiger unserer Klienten gesehen haben, dass dieses Etikett ihren Fällen beigefügt ist, bzw. in ihren Home Office-Dateien erwähnt wird. Auch haben wir festgestellt, dass dieses Etikett für Klienten von uns verwendet wird, die das Innenministerium gemäß Artikel 13 Absatz 2 des Dubliner Übereinkommens nach Frankreich bringen möchte. Obwohl wir nicht sicher sind, inwieweit die Operation Sillath und die Anwendung von Artikel 13 Absatz 2 miteinander verbunden sein könnten, befürchten wir, dass das Innenministerium Artikel 13 Absatz 2 auf diese Weise nur für Fälle verwendet, die als oder unter Operation Sillath gekennzeichnet sind.”
Die Frage, welche Aktivitäten genau unter diesem Namen ausgeführt werden, kann sie nicht beantworten – “weil wir noch nicht genau wissen, was Operation Sillath ist.” Zu ihren politischen und ethischen Bedenken äußert sie sich wie folgt: “Ich bin sehr besorgt über die rechtswidrige und möglicherweise willkürliche Ausübung von Macht durch das Innenministerium gegenüber Menschen, die in Großbritannien Asyl suchen möchten. Es ist sehr besorgniserregend, dass sich ‚hostile environment‚ so stark fortsetzt.”
Mit ‚hostile environment‘ ist ein Politik-Konzept des Innenministeriums gemeint, das 2012 von Theresa May begründet wurde. Das Ziel, so formulierte es May selbst, war “in Großbritannien eine wirklich feindselige Umgebung für illegale Migration zu schaffen” um Einwanderung zu entmutigen, bzw. ImmigrantInnen dazu zu bringen, freiwillig zurückzukehren. Was Lily Parrott zusätzlich beunruhigt, ist der Brexit, der zum Jahreswechsel vollzogen wird: Großbritannien habe somit “die Gelegenheit erneut zu überprüfen, wie es mit Migration und seinen Grenzen umgeht.”
Soweit die Einsichten der Londoner Anwältin. Wieviel Dynamik in der aktuellen Debatte ist, und wie drastisch ihre Inhalte bisweilen sind, zeigt eine Forderung des ehemaligen Border Force-Chefs Tony Smith: Bootsflüchtlinge sollten demnach nach Frankreich zurückgebracht werden, noch bevor sie überhaupt einen Antrag auf Asyl stellen könnten. Nur so ließen sich Schleuser davon abbringen, dass Leben von Menschen in prekären Umständen aufs Spiel zu setzen.
Bridget Chapman, Mitglied des Kent Refugee Action Network (KRAN), fordert dagegen eine “sichere und legale Passage” für Asylsuchende.