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Channel crossings & UK

Was ist “Operation Sillath” ?

Mehr MigrantInnen als je zuvor haben in der ersten Hälfte des Jahres den Ärmelkanal per Boot überquert – ungeachtet britisch-französischer Abkommen, die genau dies verhindern sollen. Während populistische Scharfmacher und besorgte Patrioten für mehr Abschottung trommeln, hat das britische Home Office begonnen, einen Plan umzusetzen, um Bootsflüchtlinge zurück nach Frankreich zu schicken. Viel von ihm ist nicht bekannt. Die Spurensuche beginnt mit einem rätselhaften Namen. Erster Teil.

Wenn es nach Priti Patel, der britischen Innenministerin, und ihrem französischen Pendant Christophe Castaner ginge, wären die klandestinen Bootspassagen Geflüchteter über die Straße von Dover inzwischen ein “seltenes Phänomen”. Dieses Ziel zumindest formulierten sie im September letzten Jahres im Rahmen ihres Plans, die Zahl der Überfahrten drastisch zu senken.

Die Aussicht von mindestens 2.400 Personen, die in einem halben Jahr, nämlich des ersten von 2020, per Boot in England anlegen – entweder selbst oder in Begleitung der Küstenwache –, hätte wohl vor allem Patel einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Und man kann davon ausgehen, dass es der Chefin des Londoner Home Office ziemlich nahegeht, das genau diese Zahlen just veröffentlicht wurden. Seit November 2018 sind es mindestens 4.500 – beinahe zehn Personen täglich. Die tatsächliche Dimension des im Gegenteil immer häufigeren Phänomens ist dabei noch einiges größer, denn offenbar haben französische Behörden alleine in den Monaten Mai und Juni über tausend weitere Personen an der Überfahrt gehindert.

Ziemlich aufschlussreich sind die Ereignisse des 24. Juni: auf sechs Booten erreichten insgesamt 82 Passagiere die britische Küste. Ihre Herkunftsländer unterstreichen, wie sehr die boat crossings, im Winter 2018/2019 vor allem von iranischen Geflüchteten eingeführt, zur allgemeinen Methode am Kanal geworden ist: Iran, Somalia, Syrien, Jemen, Kuwait, Afghanistan, Ägypten, Indien, Irak, Togo, Niger. Ausführlichere Texte zu den Passagen an sich finden sich etwa hier oder hier.

Priti Patel ist klar, dass der Druck auf ihr Home Office dadurch massiv zunimmt. Im Mai begab sich Brexit Party-Chef Nigel Farage während des Lockdown nach Kent, um mit einer Kamera-Crew von einem Boot im Kanal aus den “illegalen Migranten-Skandal” zu filmen. Er warf der französischen Marine vor, die Migrantenboote bis in britische Gewässer zu eskortieren, und konstatierte: “Die Invasion wird weitergehen, wenn wir nicht handeln.”

Patel erneuerte im Juni ihre Ankündigung, “alles zu tun, um die Boote zu stoppen”. Dieses ‚Stoppen‘ hat eigentlich zwei Dimensionen: Zum einen will man verhindern, dass die Boote und ihre Insassen die britische Küste erreichen. Zum anderen will man diejenigen, die dort ankommen, gerne zurückschicken – und am liebsten so zügig wie möglich.

Gerade letzteres ist ein erheblicher Kritikpunkt der nationalistischen und populistischen Rechten an der konservativen Regierung: der  ausgesprochen zuwanderungskritische Think Tank Migration Watch UK, der sich selbst als The Voice of 30 Million bezeichnet, kritisiert: “Rückführungen sind katastrophal niedrig.” Damit gemeint sind die 155 Personen, die zwischen Januar 2019 und Aril 2020 nach Frankreich abgeschoben wurden – eine Quote von sechs Prozent. Mitte Juni ereiferte sich die Daily Mail mit standesgemäßem Schaum vor dem Mund: “KEINER der 1.100 Migranten die in der letzten sieben Wochen den Kanal überquerten, wurde abgeschoben, trotz Priti Patels Versprechen die Leute nach Frankreich zurückzuschicken.”

Unklar ist seit Längerem, wie das Innenministerium seine Abschottungs-Ambitionen umsetzen will und wie weit diese Pläne gediehen sind. Im Mai sorgte ein Artikel im Guardian diesbezüglich für einige Aufmerksamkeit. Der Titel, “Home Office deporting migrants who cross Channel in small boats”, lässt vermuten, dass da eine größere Initiative gestartet wurde. Das Kind bekommt auch gleich einen Namen: “Operation Sillath”. Ins Leben gerufen, so heißt es, als “Antwort auf die steigende Zahl von Menschen, die per Boot aus Frankreich ankommen”.  

Leider ist der Artikel bemerkenswert vage, was die Details der Operation betrifft. Was freilich nicht verhindert, dass Hilfsorganisationen, UnterstützerInnen und allerlei Initiativen rund um das Kanal-Migration in einiger Aufregung verkehren. Kaum jemand allerdings weiß Näheres. Andere relevante Artikel sind zum Thema nicht erschienen, zumindest keine, die sich auf neue Quellen stützen und mit anderen Details aufwarten können. Auch findet sich weit und breit niemand mit einer Idee, was der Name “Sillath” bedeutet. Eine Anfage beim Home Office bleibt unbeantwortet.

Setzen wir also bei dem Wenigen an, was der Artikel erwähnt. Da gibt es den Hinweis, dass es unter aktueller Rechtslage möglich ist – Stichwort Dublin-Abkommen – Asylbewerber in einen anderen EU- Mitgliedsstaat zurückschicken zu können, wenn sie dort Fingerabdrücke hinterlassen, zuvor Asyl angefragt oder sich aufgehalten haben. Wer die Ereignisse am Kanal in den letzten Wochen verfolgt hat, dürfte jetzt aufhorchen: Anfang Juni nämlich wies das Innenministerium britische Grenzbeamte, die beim Eurostar-Terminal bei Calais arbeiten, an, künftig Fingerabdrücke von Migranten zu nehmen, die womöglich durch den Tunnel nach England wollen. Mehr dazu hier.

Weiter wird Lily Parrott zitiert, eine Anwältin der Londoner Kanzlei Duncan Lewis Solicitors. Sie äußert ihre wachsende Besorgnis angesichts “eines Trends, den wir gesehen haben, bei dem das Innenministerium versucht Menschen aus dem Vereinigten Königreich nach Frankreich zu bringen, nachdem sie hier per Boot angekommen sind. Wir sind der Ansicht, dass dies illegal und auf der Grundlage einer Vermischung zwischen dem Dubliner Übereinkommen und einem Vertrag zwischen Großbritannien und Frankreich über das Grenzmanagement geschieht. Dies wäre ein ungeheurer Verstoß gegen das europäische Recht, der es vielen Asylbewerbern ermöglichte, fälschlicherweise aus dem Vereinigten Königreich entfernt zu werden.”

Damit bekommen wir zumindest konturenhaft eine Idee von der rechtlichen Grundlage, auf der sich die ominöse Operation Sillath abspielen soll, oder dies zukünftig wird. In der Hoffnung auf weitere Informationen nehmen wir Kontakt mit der genannten Anwältin Lily Parrott auf.