Kategorien
Channel crossings & UK

“Der Brexit stoppt die Boote nicht”

Ankunftsland UK (I): Der Londoner taz-Korrespondent Daniel Zylbersztajn im Gespräch über seinen Besuch in Dover Mitte September

Border Force- Boot verlässt den Hafen von Dover.
(c) Daniel Zylbersztajn 2020

Als wir vor rund einem halben Jahr diesen Blog begannen, standen am Anfang unsere Erfahrungen in Orten wie Calais, Dunkerque, Boulogne, in Zeebrugge oder Oostende oder Hoek van Holland – allesamt an der kontinentalen Küste des Ärmelkanals. Deutlich seltener als dorthin führten Recherchereisen uns hinüber nach Großbritannien – eine Tatsache, die sich auch in den hier veröffentlichten Texten spiegelt.

Gerade in der derzeitigen Lage, in der die Spannungen um die Boots-Überquerungen stetig zunehmen und ein No Deal-Brexit zusehends wahrscheinlicher wird, scheint es uns wichtig, diesen Fokus zu erweitern und mehr auf die britische Perspektive einzuzoomen.

Daher sollen hier in den nächsten Wochen in loser Reihenfolge mehrere Artikel erscheinen, die auf die Verhältnisse im Vereinigten Königreich eingehen – an den Küsten, an denen MigrantInnen ankommen, aber auch im Inland, wo diese Boote und ihre Insassen ein wichtiger Teil eines vielfach irrationalen und xenophoben politischen Diskurses sind.

Passend dazu befragten wir auch Daniel Zylbersztajn, langjähriger London-Korrespondent der Berliner Tageszeitung und seit den 1990ern im UK, zu seinen Beobachtungen im Hafen von Dover, aber auch zu gesellschaftlichen Hintergründen. Seine Reportage in der taz steht hier.

Wie lange warst Du vor Ort, und wieviel landings hast Du gesehen?

Anderthalb Tage. In dieser Zeit sah ich zwei landings, und von einer dritten am Tag davor habe ich gehört. Bei beiden, die ich sah, waren die MigrantInnen an Bord eines Border Force-Bootes. Wenn sie von einem größeren Boot geborgen werden, werden sie manchmal auch von einem Einsatzboot reingefahren. Ich habe aber nur die kleineren Einsatzboote gesehen.

Auf dem Ärmelkanal Geborgene auf einem Boot der Border Force.
(c) Daniel Zylbersztajn 2020

Wieviele Personen kamen dabei in etwa an?

Jeweils um ein Dutzend, genau konnte ich es nicht zählen. In einem Fall war es eine ganze Familie mit kleinen Kindern.

(c) Daniel Zylbersztajn 2020

Hast Du etwas erfahren zu landings, bei denen die Menschen mit eigenen Booten anlegten?

Selber habe ich das nicht gesehen, aber am Vortag gab es Leute, die bei Saint Margarete’s Bay ankamen (etwa acht Kilometer nordöstlich von Dover). Da gab es einen Vorfall, bei dem ein Engländer einen der Flüchtlinge geschlagen hat. Er (der Engländer) wurde dann von der Polizei festgenommen.

Boote der letzten Woche in der Marina von Dover
(c) Daniel Zylbersztajn 2020

Wie liefen diese Ankünfte ab?

Die Menschen kommen an Bord, wo ihnen zuerst mal Decken und Masken ausgeteilt werden. Dann kommen sie in die Marina, wo sie dann in dieses Aufnahmezentrum gebracht werden. Das bedeutet, dass man dann über zwei andere Boote auf so eine Landungsbrücke geht und von dort aus in dieses Zentrum. Das Zentrum besteht aus Container- Räumen und Zelten. Was dort genau vorgeht, kann ich nicht sagen, aber ich glaube, es werden verschiedene Prüfungen gemacht, Gesundheit, Identität aufnehmen, solche Sachen. Ich habe schnell über den Zaun geschaut und gesehen, da stehen Leute rum, gehen von einem Zimmer ins andere, sowas passiert dort. Es ist nur eine Erst-Aufnahme. Dort werden sie dann in einen Bus gebracht, was ich nicht selber erlebte, aber ich sah es auf Videos, und damit werden sie dann in verschiedene Unterkünfte gebracht. Ein Krankenwagen stand auch neben dem Zentrum.

Erstaufnahmezentrum der Border Force.
(c) Daniel Zylbersztajn 2020

Was geschieht danach mit den Menschen?  

Wenn sie unter 18 sind, kommen sie normalerweise in die Obhut der Grafschaft  Kent. Ab dem 17. August kommen sie aber nicht mehr unter deren Verantwortung, sondern sind momentan in einem Lager des Home Office. Man sagt, das sei ein ehemaliges Militär-Lager, das leersteht. Andere kommen erstmal in temporäre Unterkünfte. Momentan sind auch Hotels dabei, wegen Covid, weil sie nicht genügend andere Aufnahme- oder Asylzentren haben. Und dann wird geprüft, ob sie einen Fall haben oder nicht. Und je nachdem kommen sie dann aus dem Zentrum raus.

In Deinem Text berichtest Du über Anti-Migrations-Aktivisten. Was hat es mit denen auf sich? Repräsentieren die eine Bewegung, sind das Einzelne, Spinner?

Sie sind eine Reflektion eines bestimmten Teils, eines kleinen, lauten Teils der Bevölkerung. Aber wenn ich Leute befragt habe in Dover, kamen doch auch wieder positive Bemerkungen zu Flüchtlingen. Insofern stellen sie einen Teil dar, der ziemlich laut, aber auch ziemlich aktiv ist.

Das, was man sieht, was sie dort im Zentrum tun, ist das eine. Auf der anderen Seite schreiben sie auch sehr viele Briefe an ihre Parlamentsabgeordneten, und die müssen dann diese Themen ins Parlament bringen, ins Unterhaus, und von dort gehen sie dann in die Fragen-Session des Parlaments. Dazu hat man natürlich bestimmte Zeitungen, wie den Daily Express, die da mit aufwiegeln. Dadurch wird eine politische Atmosphäre kreiert, auf die dann die Regierung reagiert. Was sind das für Menschen? Arbeitslose, glaube ich, Leute, die nichts zu tun haben, die da rumkurven können, die man vielleicht normalerweise im Pub sieht. Ich würde sagen, sie gehören zur Arbeiterklasse, oder es sind Leute, die gar keinen Job haben und die jetzt meinen, ihre Aufgabe sei es, das zu machen.

Anti-Migrations-Aktivisten auf Beobachtungsposten über dem Ärmelkanal.
(c) Daniel Zylbersztajn 2020

Ich sprach auch mit zwei älteren, die noch nicht das Rentenalter erreicht, aber beide momentan keine Arbeit haben. Die hatten irgendwo auch etwas Nettes an sich, aber wenn es ums Thema Migration ging, und Flüchtlinge, hatten sie ziemliche Ansichten. Interessanterweise erzählte einer, er sei vier Mal in Auschwitz gewesen. Mit jüdischen Menschen hat er also Sympathie, aber bei Flüchtlingen ist das eine andere Sache. Das mag mit der Rolle des Landes im Zweiten Weltkrieg zu tun haben, damit überidentifizieren sie sich ja auch teilweise, nach dem Motto, hier handele es sich um eine Invasion. 

Nigel Farage in Dover.
(c) Daniel Zylbersztajn 2020

Ich habe das Gefühl, dass die Leute in einem Sog stecken, sich selbst fanatisieren und andere weiter fanatisieren durch Soziale Medien, denn intellektuell stand das alles nicht auf dem Boden. Die sind alle durch diesen Social Media-Sog durch, das spielt eine große Rolle dabei. Ein Beobachter einer NGO sagte mir auch, dass es teilweise Leute sind, die dachten, dass mit dem Brexit die Migration ins Land endet, also genau wie Farage. Jetzt sehen sie die Leute in den Booten, und der Brexit kann es nicht mal stoppen. Im Gegenteil, sie können Leute womöglich ohne Abkommen nicht mehr auf Basis der Dublin-Verordnung in andere EU-Staaten zurückbringen.