Die Klage von zwölf lokalen und nationalen Organisationen gegen das am 10. September 2020 ergangene Verbot nichtstaatlicher Nahrungsverteilungen in der Calaiser Innenstadt (siehe hier) ist vor dem Verwaltungsgericht in Lille gescheitert. Damit ist aber weder die juristische noch die politische Intervention beendet. Die Organisationen werden nun vor dem obersten franszösischen Gericht in Berufung gehen. Unterdessen besuchte die Défenseure des droits, die Ombudsfrau der Französischen Republik für die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte, Calais – und unterstützte den juristischen Kampf der Organisationen.
Mit seinem Beschluss vom 22. September 2020 folgte das Verwaltungsgericht in Lille der Argumentation der Behörden, dass die von einer einzigen staatlich mandatierten Organisation (La vie active) durchgeführten Verteilungen ausreichten, um die informell in Calais lebenden Migrant_innen zu versorgen. In einer gemeinsamen Erklärung weisen die Kläger_innen vor allem auf zwei Mängel des Beschlusses hin:
Zum einen habe das Gericht es nicht als unzumutbar gewertet, dass die Betroffenen infolge des Verbots oft Wege von mehreren Kilometer zurücklegen müssten, um zu den offiziellen Versorgungspunkten für Trinkwasser und Nahrung zu gelangen. Entsprechende Selbstzeugnisse über Erschöpfungszustände aufgrund der Distanzen seien dem Gericht vorgelegt worden, aber nicht in dessen Entscheidung eingeflossen. „Die vom UNHCR erarbeiteten humanitären Indikatoren besagen beispielsweise, dass das Trinkwasser weniger als 500 m von den Lebensorten der Menschen entfernt sein muss. Die Entfernungen in Calais sind 4 km, was eine Stunde zu Fuß bedeutet, und man muss zu zwei Verteilungen pro Tag gehen“, so die Organisationen.
Zweitens weisen die Kläger_innen die Argumentation des Gerichts zurück, dass außerhalb der im Verbotserlass benannten Zone weiterhin unabhängige Verteilungen durchgeführt werden könnten. Dies stimme zwar formal, doch seien diese Verteilungen starken polizeilichen Schikanen ausgesetzt und hätten in einigen Fällen deshalb nicht stattfinden können.
Die zwölf Organisationen werden nun vor dem Staatsrat, dem obersten französischen Gericht, gegen den erstinstanzlichen Beschluss in Berufung gehen.
Zeitgleich zum Beschluss des Gerichts untersuchte am 22. und 23. September die Défenseure des droits, Claire Hédon, die Situation in Calais und sprach dort mit den Verantwortlichen der staatlichen und kommunalen Behörden, der Sicherheitskräfte, der zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Migrant_innen. Bereits Hédons Amtsvorgänger Jacques Toubon hatte Calais mehrfach besucht und die Menschenrechtslage 2015, 2016 und 2018 scharf kritisiert. In einer am 24. September veröffentlichten Presseerklärung bekräftigte Hédon die früheren Feststellungen zur „Verletzung der elementarsten Grundrechte“ und den „unwürdigen und beschämenden Lebensbedingungen“.
Ihre Einschätzung bestätigt die in den vergangenen Monaten und Jahren von den Initiativen der Flüchtlingshilfe, Menschenrechtsorganisationen und politischen Aktivist_innen erhobenen Vorwürfe. „Der Wunsch, die Exilierten in Calais unsichtbar zu machen, hat zu einer Situation geführt, in der keine Unterkunft geduldet wird“, schreibt Hédon. Die zwischen 1200 und 1500 Menschen, unter ihnen Frauen mit Kleinkindern sowie unbegleitete Minderjährige, schliefen „auf dem Boden, versteckt unter Büschen“; es gene „nur wenige Zelte“; „die Exilierten werden alle zwei Tage von den Ordnungskräften aus ihren Camps vertrieben“. Sie könnten sich „daher nicht mehr ausruhen und sind ständig in Bereitschaft. Sie befinden sich in einem Zustand körperlicher und geistiger Erschöpfung“.
Vor dem Hintergrund des Verbots und des Liller Gerichtsbeschlusses, aber auch der zweiten Welle der Corona-Pandemie, schrieb Hédon außerdem: „Unter diesen Bedingungen ist der Zugang zu Nahrung, Wasser und Hygiene schwierig. Die sanitären Einrichtungen, die an verschiedenen Stellen weit entfernt von den Lebensorten verteilt sind, sind sehr unzureichend, da nur eine Wasserstelle (zwei Wasserhähne) 24 Stunden am Tag geöffnet ist. Die Verteidigerin der Rechte konnte feststellen, dass die hygienischen Bedingungen daher erbärmlich waren. In dieser Zeit der gesundheitlichen Krise im Zusammenhang mit der Covid-Epidemie haben die Populationen nur wenige Masken, und die Einhaltung der Abstandsregeln und regelmäßiges Händewaschen sind unmöglich. Manche Exilierte können nicht jeden Tag essen. Die Essensausgabe […] ist manchmal weit von den Lebensorten entfernt.“ In diesem Sinne, so erklärte Hédon weiter, habe sie sich auch vor dem Verwaltungsgericht in Lille gegen das Verbot der Nahrungsverteilungen ausgesprochen und werde dies „auch vor dem Staatsrat tun“.
Hédon erinnert in ihrem Bericht an nicht oder nur unzureichend erfüllte Forderungen ihres Vorgängers etwa zum Schutz von Frauen und Kindern vor sexueller Gewalt und Ausbeutung sowie zur Bereitstellung einer Notunterkunft zumindest für die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen. Ihre zentrale Forderug aber zielt auf eine grundsätzliche Abkehr von der Politik der Verdrängung und Unsichtbarmachung der migrantischen Bevölkerung durch permanenten Vertreibungsdruck gegen sich bildende Camps. Stattdessen müssten „endlich Gespräche über legale Einreisekanäle aufgenommen werden“. Bis dahin hätten die Behörden diejenigen, „die da sind“, den internationalen Verpflichtungen gemäß „mit Würde“ zu behandeln.