Am 11. November gegen 15:00 eskaliert ein Polizeieinsatz auf dem Camp am BMX-Gelände in Calais [1]. Ein CRS-Beamter schießt einem Eritreer mit einem Gummigeschoss ins Gesicht und verletzt ihn schwer. Die Polizei behindert den Transport des Schwerverletzten, der auch noch eine Woche später im Krankenhaus behandelt werden muss, wo er nach wie vor nicht ansprechbar ist, und sein Zustand als kritisch eingeschätzt wird. Die Eritreer_innen in Calais wenden sich mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit.
Ausgangspunkt des Polizeieinsatzes ist laut Präfektur die Versorgung eines verletzten Migranten durch die Feuerwehr, die die CRS mit einer Straßenblockade absichert, in deren Folge eine Gruppe von etwa 20 Eritreer_innen auf dem Weg zu ihrem Camp eingekesselt wird – nach Angaben von Freiwilligen der NGO Refugee Info Bus ohne den Grund dafür genannt zu bekommen. Offenbar eskaliert die Situation; die Polizei gibt an, mit Steinen beworfen worden zu sein und setzt Tränengasgranaten und Gummigeschosse ein. Nach Zeugenaussagen schießt ein CRS-Beamter einem Eritreer aus einer Entfernung von weniger als zehn Metern mit einem Gummigeschoss des Typs LBD40 ins Gesicht. [2]
Die spätestens seit den Gelbwestenprotesten in Frankreich umstrittene Waffe verschießt Gummigeschosse des Kalibers 44mm mit einer Mündungsgeschwindigkeit von rund 400 Stundenkilometer und darf laut Polizeianweisung nur gegen die Extremitäten gerichtet werden. [3,4]
Der Getroffene erleidet Schädeldeformationen, seinen Gesicht ist nach Zeugenaussagen vollständig entstellt, und er blutet stark. Die Polizei behindert die Versorgung des Schwerverletzten, verweigert einen Transport mit dem Bus der NGO, lässt den gerufenen Krankenwagen nicht passieren, erst nach minutenlangen Verhandlungen wird ein Sanitäter zu Fuß durchgelassen; ihm gegenüber gibt die Polizei fälschlicherweise an, der Getroffene sei durch Steinwürfe seiner Landsleute verletzt worden.
Schließlich tragen zwei Migrant_innen den Schwerverletzten zum Krankenwagen, einer von ihnen wird im Anschluss unter dem Vorwurf von Steinwürfen von der Police Nationale festgenommen.
Dieser Vorfall ist der vorläufige Höhepunkt einer andauernden und eskalierenden gegen die hauptsächlich eritreischen Bewohner_innen des sogenannten BMX-Camps gerichteten Polizeigewalt. Die Gemeinschaft der Eritreer_innen in Calais hat sich daher mit einem offenen Brief an die französische Öffentlichkeit gewandt, den wir hier vollständig in deutscher Übersetzung dokumentieren.[5]
Sehr geehrte Damen und Herren,
Zunächst möchten wir den Franzosen für ihre Gastfreundschaft und auch für ihre Freundlichkeit danken. Um Sie nicht im Dunkeln zu lassen, gestatten Sie mir, mich und meine Gemeinde vorzustellen. Wir sind aus der eritreischen Gemeinde und leben in Calais in der Nähe des BMX-Parcours. Unsere Gemeinde lebt seit mehreren Jahren hier. Trotz des Versuches, sie öffentlich bekannt zu machen, werden viele schwer erträgliche Zustände unseres Lebens hier totgeschwiegen. Wir bitten daher um eine schnelle Lösung unserer Probleme.
Lassen Sie mich Ihnen einen Teil unserer Geschichte erzählen. Das eritreische Volk hat so viele schreckliche Dinge auf seinem Weg gesehen, und die Geschichte wiederholt sich erneut. Meine Community ist hier, weil dies die einzige Option ist, die wir haben. Einige von uns haben ohne ihre Zustimmung einen Fingerabdruck in Italien abgeben müssen, andere von uns wurden in andere europäische Länder wie Deutschland und die Schweiz gebracht oder abgeschoben, wo ihr Asylantrag dann leider abgelehnt wurde. Was uns krank macht, ist, dass die meisten von uns fünf oder sechs Jahre auf die Prüfung ihres Asylantrags gewartet haben und es schrecklich ist, dass wir am Ende eine negative Antwort erhalten. Dieses Abwarten verursachte uns große Qualen. Trotz unserer hohen Erwartungen an die europäischen demokratischen Länder, die enttäuscht wurden und unseren Kampfgeist ein wenig brachen, haben wir immer noch erkannt, dass es für uns keine Option ist, unser Ziel aufzugeben. Unsere Ziele sind noch nicht erreicht worden, seit wir unser Zuhause verlassen haben. Im Moment sind wir in Calais und wollen nur mit allen Mitteln nach Großbritannien. Hier helfen uns einige Menschen, einschließlich humanitärer Organisationen, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Abgesehen von diesen Menschen machen einige andere wie die CRS unser Leben zur Hölle. Manchmal verfolgen sie uns als wären wir Spione oder vorbestrafte Kriminelle. Einige CRS-Mitglieder tun unserer Gemeinde schreckliche Dinge an. Wir haben gesehen, wie CRS-Mitglieder unsere Leute mit Tränengas angegriffen haben, als sie versuchten, an ihren Lebensort zurückzukehren. Viele Mitglieder unserer Gemeinschaft sind Opfer dieser Angriffe. Die CRS handelt manchmal als stünde sie über dem Gesetz; ein demokratisches Land kann nicht als solches angesehen werden, wenn es auf diese Weise physische Gewalt anwendet. Dies macht es unzivilisiert und macht die Ausübung seiner staatlichen Gewalt inakzeptabel.
Das letzte Mal haben sie einen Freund von uns geschlagen, als er versuchte nach Hause zu gehen. Es ist nicht fair, jemanden auf dem Heimweg ohne Grund zu schlagen. Am 5. November 2020 kamen sie ohne Vorankündigung an unseren Lebensort und hinderten uns den ganzen Tag daran, unsere Zelte zu verlassen. Dann kamen sie gegen 21.40 Uhr zu unseren Zelten und versprühten Tränengas auf all unsere persönlichen Gegenstände und schlugen uns, als wären wir Tiere, keine Menschen.
Am nächsten Morgen warteten sie in Sangatte auf uns. Sie schlugen uns und zwangen uns mit Tränengas zurückzugehen. Zu verschiedenen Zeiten richten sie kleinen und großen Schaden an und es geht immer weiter. Selbst wenn sie Gruppen von uns zu Fuß gehen sehen, beschießen sie uns aus ihren Autos nur zum Spaß mit Tränengas. Jeder hat das Recht, jederzeit zu gehen, wohin er will. Diese Leute, die sie CRS nennen, verjagen uns aus der Gegend des Supermarktes Carrefour und hindern uns am Einkaufen. Für sie ist es ärgerlich, wenn Eritreer gemeinsam Freude haben, und sie werden umso gewalttätiger. Wie alle Kunden haben wir das Recht zu kaufen, was wir wollen, und wir haben auch das Recht, Spaß zu haben, wie wir wollen.
Die Handlungen des CRS sind beschämend; diese Leute haben die Grenze überschritten. Während wir schliefen, versuchten einige CRS-Mitglieder, uns gewaltsam zu vertreiben. Kaum waren sie vor Ort, haben sie Tränengas eingesetzt. Menschen, die schlafen, mit Tränengas zu attackieren, ist unvorstellbar. In diesen Fällen haben wir als Gemeinschaft das Recht, uns zu verteidigen.
Am 11. November kamen einige unserer Brüder aus dem Hafen und andere aus der Stadt an den Ort, an dem wir leben, bekannt als BMX. Unsere Brüder wurden im Bereich der Brücke von Mitgliedern der CRS aufgehalten, die sie nicht zu dem Ort durchlassen wollten. Es waren ungefähr 6 Autos und 40 Leute. Wir haben gesehen, dass die CRS-Agenten gegen sie waren, also sind wir zu unseren Brüdern gerannt und konnten uns ihnen anschließen. Die Beamten konnten uns nicht leiden, weil wir unsere Brüder beschützten. Nach den Informationen, die ich mit eigenen Augen gesammelt und gesehen habe, wurden 6 Personen verletzt. Eines der Opfer ist ein Mann, der schwer verletzt wurde. Er hat viel Blut verloren. Laut unseren Quellen wurde unser Mann aus nächster Nähe an den Kopf geschossen. Schließlich beruhigten sich die Dinge, obwohl die CRS-Beamten bereit waren, uns erneut zu schlagen. Wir versuchten uns zu wehren und bewegten uns nicht von unserem Platz weg, um unseren Lebensort verteidigen zu können.
Wir rechnen damit, dass sie jederzeit erneut zuschlagen können, weil sie unseren Bruder aus nächster Nähe getroffen haben. An diesem Punkt beschließen wir, zu sprechen und um Hilfe zu bitten. Rechtlich gesehen hat jeder Bürger das Recht, für sich selbst und die Menschen, die er liebt, einzutreten, was als Selbstverteidigung bezeichnet wird. Wir müssen nur diejenigen aufklären, die davon betroffen sein könnten. In diesem Land der Freiheit und Demokratie müssen unsere Menschenrechte respektiert werden. Andernfalls werden wir uns und unseren Lebensort auf jeden Fall verteidigen. Wir wissen, dass die Polizei für die Sicherheit der Menschen arbeitet.
Wir Eritreer respektieren das Gesetz, wir helfen der Polizei gerne und tun, was sie legalerweise von uns verlangen. Wenn uns jemand vorwirft, dass wir illegale Dinge tun, möge er Beweise dafür vorlegen. Wir bitten daher um Hilfe, damit die CRS alles stoppen, was sie uns antun. Als Gemeinschaft wollen wir nur darüber informieren, was mit uns passiert. Wir hätten vor Gericht gehen können, aber wir haben nicht die Aufenthaltspapiere, um unseren Fall vorzubringen. Wir wollen nur Gerechtigkeit. Wir bitten nur um Gerechtigkeit und die Hilfe der Gesellschaft. Vor Gericht sind wir alle gleich und warten darauf, dass die Behörden uns gerecht behandeln, damit unser Volk wie alle anderen in Frieden leben kann.
Dies ist eine unvollständige Liste von Gewalttaten, denen Mitglieder der eritreischen Gemeinschaft in jüngerer Vergangenheit ausgesetzt waren. Alle diese Ereignisse fanden in Calais statt und wurden seit Beginn des aktuellen Lock-Downs von CRS-Agenten begangen:
• CRS kommen regelmäßig, um die Exilierten vom Rasen des Carrefour zu jagen und sie am Einkaufen zu hindern.
• CRS-Mannschaftstransporter beschleunigte beim Anblick von Menschen auf der Straße stark, als wollten sie sie überfahren.
• CRS hindert regelmäßig, dass Bewohner des Camps in die Innenstadt gehen oder aus ihr zurückkommen. Dabei setzen sie Tränengas und Schlagstöcke ein.
• CRS beschießt Fußgänger aus geöffneten Fahrzeugtüren mit Tränengas.
• In der Nacht des 5. November gegen 21 Uhr kam CRS an unseren Lebensort und setzte Tränengas ein und schlug uns mit Schlagstöcken.
• Am Morgen des 6. November gegen 6 Uhr morgens: CRS griff eine Person an, die auf die Toilette ging; dann setzten sie Tränengas gegen das Camp ein. Sie schlugen und auch die Bewohner auf ihrem Weg nach Sangatte und beschossen sie mit Tränengas.
• Die Nacht des 10. November: CRS zerstörte Zelte.
All diese Gewalt erreichte am Nachmittag des 11. November einen Höhepunkt: Nach mehreren Berichten wurden die Einwohner mehrmals mit Tränengas attackiert; ein Mann wurde durch einen Schuss aus weniger als 10 Metern Entfernung, der direkt auf das Opfer gerichtet war, schwer im Gesicht verletzt. Das Opfer bleibt im Krankenhaus und ist nicht in der Lage, der Mitteilung seines Gesundheitszustands zuzustimmen. Bei dieser Veranstaltung wurden mindestens 6 Personen aus der Gemeinde verletzt. Die eritreische Gemeinschaft bittet um einen Dialog mit den Menschen, die dem CRS die Befehle erteilen.
- BMX-Gelände in Calais auf Google Maps, in dessen Nähe das Camp liegt
- In Calais hat ein Eritreer schwere Gesichtsverletzungen nach einem LBD40-Schuss erlitten (Streetpress)
- Flashball (Artikel der deutschsprachigen Wikipedia)
- Flashball (Artikel der französischsprachigen Wikipedia)
- Offener Brief der eritreischen Gemeinschaft in Calais auf Passeurs d’hospitaliés (Französisch)