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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

„Eine diskrete Nekropolitik“: Jahresbericht 2020 der Human Rights Observers

Am 15. April 2021 veröffentlichten die Human Rights Observers (HRO) ihren Jahresbericht Observations des violences d’État a frontière Franco-Britannique. Das 49seitige Dokument beruht auf einer systematischen und kontinuierlichen Beobachtung des Polizeiverhaltens in Calais und Grande-Synthe während des vergangenen Jahres. Bereits einige Zahlen machen von Neuem das Ausmaß der Gewalt sichtbar: 967 dokumentierte Räumungen migrantischer Lebensorte in Calais plus 91 in Grande-Synthe, zusammen 1058. Dabei wurden in Calais mindestens 2816 Zelte/Planen, 802 Schlafsäcke/Decken, 228 Taschen, 116 Fahrräder und anderer persönlicher Besitz bechlagnahmt. In Grande-Synthe waren es mindestens 2110 Zelte/Planen, 357 Schlafsäcke/Decken und 32 Taschen. In Calais wurden 349 und in Grande-Synthe 149 Personen während einer Räumung festgenommen.

Nirgendwo sonst in Frankreich gibt es auch nur annähernd so viele Räumungen prekärer Lebensorte wie in Calais und Grande-Synthe. Zwar sind es, so der Bericht, die französischen Behörden, die diese Situation „tagtäglich managen“, gleichwohl müsse man „dank der finanziellen Unterstützung der Briten, die regelmäßig neu verhandelt wird, von einer gemeinsamen Politik an dieser Grenze sprechen.“ Im Kontext des Brexits wurde diese Kooperation „in einer zunehmend repressiven Logik tendenziell verstärkt.“ Vor allem seit dem Treffen des französischen Innenministers Gérald Darmanin und seiner britischen Amtskollegin Priti Patel im Juli 2020 in Calais (siehe hier) sei „auf beiden Seiten des Ärmelkanals eine regelrechte Verhärtung des Diskurses und der Verlautbarungen zum Thema Migration zu beobachten.“ (S. 3)

Im Mittelpunkt dieser Politik stehen Taktiken des Fernhaltens der betroffenen Menschen von potenziellen Transitmöglichkeiten und der Grenze selbst. Hierzu zählen die Autor_innen, die an dieser Stelle immer wieder beschriebenen Räumungen im 48-Stunden Turnus ebenso wie beispielsweise das gezielte Abholzen von Vegetation. Seit dem Treffen der Innenminister_innen im Juli konnten die HRO außerdem eine starke Zunahme aufwändiger Massenräumungen außerhab des 48-Stunden-Turnus verzeichnen: „Von den 28 Massenräumungen im Jahr 2020 fanden 20 zwischen Juli und Dezember statt.“ Michel Touraire, bis Januar 2021 als Unterpräfekt von Calais für die Maßnahmen mitverantwortlich, erklärte gegenüber einem Journalisten: „Es wird so lange dauern, wie es dauert […] Jahre, wenn es sein muss.“ (S. 4)

Der Bericht fokussiert nicht die teils eklatanten Fälle individueller Polizeigewalt – ohne diese auszublenden –, sondern schildert präzise das Gewältförmige des Normalfalls: „Die Räumungen sind an sich schon gewalttätig.“ (S. 14) Diese Herangehensweise macht die Mikrophysik der Gewalt, ihre zahllosen subtilen Schattierungen, sichtbar. So etwa das, was ein minderjähriger Exilierter in Calais über die Rolle des Übersetzers während der morgendlichen Räumungen berichtet: „Jedes Mal, wenn die Polizei morgens hierher kommt, ist ein Farsi-Übersetzer dabei, der sich uns gegenüber sehr schlecht benimmt. Obwohl er Paschtu kann, spricht er mit uns immer auf Farsi und wir verstehen nicht, was er sagt. Er schickt die Minderjährigen mit der Polizei gewaltsam ins Abschiebezentrum und egal was wir ihm sagen, er übersetzt es völlig falsch. Er sagt ihnen, dass wir nicht minderjährig sind, sondern dass wir erwachsen oder volljährig sind. Er hat auch einige Videos von uns aufgenommen; obwohl wir nicht wollen, dass er Videos von uns aufnimmt, tut er es.“ (S. 14) Ebenso macht der Bericht die Wirkung der Räumungen nicht nur in materieller oder psychischer, sondern in sozialer Hinsicht deutlich: „So erklärten Exilierte, voneinander isoliert zu sein, was ihre kollektive Organisation kompliziert, wenn nicht gar unmöglich macht. Es ist daher schwierig, den Schutz der Gruppe in Anspruch zu nehmen, auch wenn die meisten Fälle von individueller Polizeigewalt gegen einzelne Personen oder kleine Gruppen begangen werden.“ (S. 15)

Diese Taktik setzt sich bekanntlich in der exorbitanten Menge des beschlagnahmten und zumeist als Müll entsorgten Eigentums fort, wie sie in der oben wiedergegebenen Zahl von annähernd fünftausend Zelten, die zugleich elementares Schutzgut sind, sichtbar gemacht wurde. Welche Praxen der Demütigung damit einhergehen, verdeutlicht diese Passage: „Eine Person berichtete, dass die Polizei ihre Geldscheine vor ihren Augen zerriss. Am 8. Dezember stellte unser Team fest, dass die Reinigungskräfte persönliche Gegenstände durchsuchten und sich mit der Komplizenschaft der Strafverfolgungsbehörden über deren Inhalt lustig machten. Im Februar wurden sogar das Wasser und die Nahrungsmittel in den migrantischen Lebensorten mehrfach weggeworfen oder verbrannt. Diese Taten sind kein Einzelfall, sie haben sich im Laufe des Jahres mehrmals wiederholt, sowohl in Calais als auch in Grande-Synthe.“ (S. 20)

Ausführlich beschreibt der Bericht die typischen Verläufe der Räumungen, die darin involvierten Behörden, die zu Grunde liegenden Entscheidungsprozesse sowie die rechtlichen Konstrukte, mit denen diese Operationen formal legalisiert werden oder zumindest einen Anschein von Legalität wahren. In diesen Kontext gehören auch die humanitären Maßnahmen des französischen Staats wie die Verteilung von Trinkwasser und Nahrung in begrenztem Umfang, die Aufstellung von Mobiltoiletten an einzelnen Camps oder formal freiwillige Bustranasfers in entfernt gelegene Unterkünfte. Dieses Gefüge humanitärer Maßnahmen nimmt in der Legitimation der repressiven Migrationspolitik in Calais und Grande-Synthe eine zentrale Rolle ein. Dass es quanitativ unterdimensioniert und qualitativ inadäquat ist, wurde immer wieder beschrieben, auch im vorliegenden Bericht. Exemplarisch zitiert er einen Medienbericht, in dem der Leiter eines Unterbringungszentrums seinen Eindruck schildert, viele Exilierte würden seine Einrichtung vor allem nutzen, um ihren in Calais geschundenen Körpern etwas Ruhe zu verschaffen, aber sie würden wieder aufbrechen, bevor ihre Fälle geprüft würden, da sie eine Abschiebung fürchteten. Die Beobachtungen der HRO machen noch weitere Details sichtbar: „Im Mai 2020 berichteten sechs Personen den Verbänden, dass sie in einen Bus eingestiegen seien, der sie auf einem Parkplatz in Douai abgesetzt habe, und dass die Polizei sie dann aufgefordert habe, den Ort zu verlassen. Sie wurden nicht an ein Zentrum weitergeleitet. Diese sechs Personen kehrten noch am selben Tag zu Fuß nach Grande-Synthe zurück. Dieser Zwang wird auf verschiedene Weise ausgeübt: Sehr oft kehren die Personen, die in die Busse einsteigen, im Laufe des Tages oder sogar während der Woche zu ihrem Wohnort zurück und geben an, dass sie nicht in den Bus einsteigen wollten, sondern dazu gezwungen wurden.“ (S. 24)

Die Corona-Pandemie habe die Lage weiter verschlechtert. Dies konnte durch die phasenweise ausgeweiteten humanitären Maßnahmen der Behörden nicht kompensiert werden. „Unsere Beobachtungen zeigen, dass die Maßnahmen, die der französische Staat als Reaktion auf die Gesundheitskrise ergriffen hat, unzureichend sind. Die diskriminierenden Praktiken haben sich verschlimmert und der Zugang zu Informationen ist nach wie vor unzureichend.“ Den zeitweise bereitgestellten Unterkünften fehlte es an Ressourcen und an Transparenz, und die Unterbringung erfolgte teils unter Zwang. Die Räumungen hingegen liefen mechanisch weiter, selbst angesichts „einer weltweiten Pandemie“. (S. 5)

Entscheidend sei, dass die Räumungen – gleich ob sie wie in Calais eng getaktet oder wie in Grande-Synthe in größeren Abständen, aber unvorhersehbarer, erfolgen – nicht isoliert zu betrachten seien, sondern in ihrem Zusammenwirken den Zugangs zu lebenswichtigen Ressourcen wie Trinkwasser, Zelten, Sanitäranlagen oder Information usw. erschweren, reduzieren oder gänzlich entziehen. „Indem der Staat den Menschen Obdach oder Nahrung vorenthält, tötet er nicht selbst; er delegiert die Arbeit des Todes an die Elemente der Natur. Es ist eine aktive, aber diskrete Nekropolitik“, zitieren die Autor_innen den Philosophen Dénètem Touam Bona. (S. 5) Folgt man diesem Gedanken, so macht der Bericht deutlich, dass es in Calais nicht allein um die Mißachtung kodifizierter Rechte geht, sondern über zwei Jahrzehnte hinweg ein Dispositiv grenz- und migrationsbezogener Gewalt entstanden ist, das sich nicht ohne erhebliche politische Anstrengung wird auflösen lassen.

Die Human Rights Observers skizzieren damit einen Deutungshorizont für ihr empirisches Material. Derade dieses Material, das sich nur durch eine kontinuierliche, weitgehend lückenlose und am Ort des Geschehens durchgeführte Beobachtung ermitteln ließ, hebt den Report von zahlreichen Berichten anderer Akteure hervor, die in der Regel die Ergebnisse zeitlich und inhaltlich begrenzter Recherchen oder Fact-finding-Delegationen zusammenfassen. Umso wertvoller ist es daher, dass die Human Rights Observers ihre Methodik explizit darlegen (S. 11f) und ihre Grenzen benennen. So wird etwa deutlich, dass die Zahl der Räumungen nicht scharf ermittelt werden konnte und eher höher liegt als oben angegeben. Während die räumliche Anordnung der Camps in Calais eine genaue Beobachtung erlaubt, sei dies in Grande-Synthe weniger der Fall. Eine dort dokumentierte Räumung sei in Wirklichkeit oft eher die „Räumung vieler ‚kleiner‘ Wohnplätze – bis zu 20 – , die im gleichen Gehölz eingerichtet sind. Es ist nicht möglich, die Anzahl der tatsächlich geräumten Plätze systematisch zu ermitteln.“ (S. 16) Insbesondere während der ersten Welle der Corona-Pandemie entstanden weitere Lücken, da eine physische Beobachtung nicht oder nur eingeschränkt möglich war.

Nach wie vor sind die stets defensiv auftretenden HRO-Teams Machtdemonstrationen und Schikanen durch die Polizeikräfte ausgesetzt, darunter übergriffige Verhaltensweisen (etwa körperliches Abdrängen, Schubsen) und Bußgeldern in Höhe von einigen tausend Euro wegen angeblicher Verstöße gegen die Corona-Bestimmungen. „Die Polizei filmt die Teams auch regelmäßig mit ihren privaten Telefonen, und ihre Ausweispapiere werden vom Renseignements Généraux abfotografiert. Diese Verhaltensweisen sind Teil der seit langem angeprangerten Strategie der Einschüchterung und Belästigung lokaler Unterstützer der an der Grenze gestrandeten Menschen, eine Strategie, die nicht genau angeprangert werden kann, da die Vollzugsbeamten zu oft ihre Identitäts- und Organisationskennzeichnung (IOR) nicht tragen und sich weigern, sie den Freiwilligen zu geben, was es unmöglich macht, sie zu identifizieren.“ (S. 18)

Was der Bericht darüber hinaus sichtbar macht, ist eine Erosion menschenrechtlicher und rechtstaatlicher Standards in Frankreich. Was in Calais und Grande-Synthe sichtbar wird, ist eine Politik der Repression, die auch dann fortgeschrieben und gerechtferigt wird wenn die Ordnungskräfte kontinuierlich „unter Missachtung des Gesetzes und der Rechte“ agieren. „In Calais und Grande-Synthe ist die Anwendung von Gewalt weder verhältnismäßig noch notwendig, die Aufrechterhaltung der Ordnung ist zum Vorwand geworden, um alle missbräuchlichen Praktiken zu rechtfertigen. Bewegungsfreiheit, Zugang zu Wasser und Nahrung, Zugang zu medizinischer Versorgung, das Recht auf Unterkunft, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Schutz des Kindeswohls, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – all das sind Rechte, die an der Grenze verletzt werden. Die Liste ist bei weitem nicht erschöpfend.“ (S. 45) So das Fazit der Human Rights Observers.

Zeitgleich zum Jahresbericht 2020 veröffentlichten die HRO ihren dritten Monatsbericht 2021. Demnach haben von Anfang Januar bis Ende März 2021 mindestens 301 Räumungen in Calais und 18 in Grande-Synthe stattgefunden. In Calais wurden 1174 und in Grande-Synthe 1102 Zelte beschlagnahmt, zusammen 2276. Im ersten Vierteljahr und inmitten der dritten Welle der Pandemie entspricht dies bereits der Hälfte des Vorjahres.