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Calais

Die Fährbesetzung 2019

Ein Rückblick aus aktuellem Anlass

In den Reaktionen auf das (angeblich) versuchte Eindringen von etwa hundert Geflüchteten auf das Gelände des Calaiser Hafens in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 2021 (siehe hier) wurde häufig auf eine Hafen- bzw. Fährbesetzumg im März 2019 hingewiesen. Beiden Ereignissen ist gemeinsam, dass sie sich an einem der am stärksten sekuritisierten Orte Frankreichs ereigneten, der zugleich ein besonders neuralgischer Punkt der externalisierten britischen Grenze ist. Beide Ereignisse verbindet aber auch, dass niemand derjenigen, die später darüber berichteten, anwesend war. Und beide werden durch das Narrativ miteinander verknüpft, dass Schmuggler_innen als Hintermänner agiert haben sollen. Wir möchten dies zum Anlass nehmen, einige bislang nicht veröffentlichte Recherchen über die Hafenaktion im März 2019 vorzustellen, die die damaligen Ereignisse in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Die damaligen Meldungen

Tatsache ist, dass in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2019 eine große Gruppe Geflüchteter auf das Hafengelände von Calais gelangte und viele von ihnen sich auf einer Fähre versteckten, die deshalb nicht ablegen konnte. Stellvertretend für zahlreiche französische und internationale Medienberichte schrieb Spiegel online noch am 3. März unter Berufung auf die Agentur AFP:

„Rund hundert Migranten haben im nordfranzösischen Fährhafen Calais am Samstagabend eine Absperrung durchbrochen und eine Fähre besetzt. Die Polizei suchte das Schiff noch am Sonntagmorgen ab – insgesamt hat es nach Behördenangaben 63 Festnahmen gegeben. Die Flüchtlinge hatten sich nach dem Durchbrechen einer Absperrung am Hafen mit einer Leiter Zutritt auf eine Fähre des dänischen Betreibers DFDS verschafft. Zwei Flüchtlinge seien dabei ins Wasser gefallen und von Feuerwehrleuten gerettet worden, sagte der Sprecher der Präfektur Jean-Philippe Vennin. Viele derer, die es an Bord geschafft hatten, versteckten sich offenbar. Nachdem das Schiff von oben bis unten durchsucht wurde, konnte die Feuerwehr am Sonntagabend die letzten Migranten dazu bewegen, die Fähre zu verlassen. Wegen des Zwischenfalls kam es während der Nacht zu Verspätungen im Fährbetrieb zwischen Calais und Dover. Zwei Schiffe mussten längere Zeit auf dem Ärmelkanal warten, bis sie in den Hafen einfahren durften.“ (Spiegel online, 3.3.2019)

Ein häufig verwendetes Foto vom 3. März zeigt mit Seilen gesicherte Feuerwehrleute an der Schornsteinanlage der Fähre. Sie versuchen, zu ein paar schemenhaft erkennbaren Personen hinaufzuklettern, die sich einige Meter höher zwischen den Abgasrohren und der Verkleidung der riesigen Anlage versteckt haben.

Einige Berichte behaupteten unter Berufung auf die Präfektur, dass vermutlich kriminelle Schmuggler hinter der Aktion gestanden hätten. Hierzu gilt, was wir bereits über die aktuellen Ereignisse angemerkt haben: Es ist nicht nachvollziehbar, warum geschäftsmäßige Anbieter rund hundert potenziellen Kund_innen Zugang zu einer Fähre verschaffen sollten, statt ihnen eine Schleusung zu verkaufen. Hinzu kommt: Kein_e Journalist_in war bei den Ereignissen anwesend. Auch keine der lokalen Unterstützungsorganisationen konnte aus einener Zeug_innenschaft darüber berichten. Und die Beteiligten selbst haben, soweit uns bekannt, nie eine eigene Erklärung formuliert.

Ein Beteiligter sagt: Es war eine politische Aktion

Ende August 2019 sprachen wir in Calais mit einem Mann, der an der Hafenbesetzung beteiligt gewesen war. Er lebte damals in einem der Camps, die in ihrer Summe den 2020 geräumten Jungle (siehe hier) im Industriegebiet Zone des dunes bildeten. Seine Schilderungen der Ereignisse erschienen und erscheinen uns glaubwürdig. Allerdings sind es die einzigen Aussagen, über die wir verfügen. Wir hatten nicht die Möglichkeit, eine zweite oder dritte Person über die Ereignisse zu befragen.

Folgen wir seiner Schilderung, so ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild, als es die Berichterstattung gezeichnet hat. Es handelt sich demnach um eine politische Aktion, die von einer der migrantischen Communities geplant und mit anderen Communities kommuniziert worden war. Das Ziel sollte offenbar sein, auf das Hafengelände zu gelangen und dort auf dem Verhandlungsweg eine Einreise nach Großbritannien zu erreichen. Vorbild sei ein Hungerstreik syrischer Geflüchteter am Calaiser Hafen im Jahr 2015 gewesen. Insgesamt hätten bis zu zweihundert Personen teilgenommen.

Die Teilnehmenden gelangten im Bereich des Fußgängereingangs auf das hoch gesicherte Hafenareal. In Sichtweite lag zu diesem Zeitpunkt eine Fähre mit offener Luke. Viele der Beteiligten seien noch sehr jung gewesen. In der Hoffnung, es kurzfristig nach Großbritannien zu schaffen, seien viele dieser jüngeren Leute zu dem Schiff gerannt und hätten versucht, durch die Luke in das Innere zu gelangen. Diese sei dann geschlossen worden, woraufhin die Übrigen versucht hätten, vom Kai aus auf die Fähre zu klettern. Bei diesen Versuchen seien einige in das aufgewühlte Wasser des Hafenbeckens gestürzt. Unser Gesprächspartner schilderte diese Situation als lebensgefährlich. Am Ende hätten drei Personen es an Bord der Fähre nach Großbritannien geschafft. Sie seien bei der Durchsuchung unentdeckt geblieben.

Diese Schilderung zeigt die Ereignisse in einem anderen Licht. Sie war demnach eine explizit politische Handlung. Das Eindringen auf das symbolgeladene Hafengelände und die punktuelle Überwindung der Hochsicherheitsanlagen, die es umgeben, sollte einen Raum schaffen, in dem über die Weiterreise nach Großbritannien würde verhandelt werden können. Aufgrund der unerträglichen physischen Situation, des geringen Alters vieler Beteiligter und der konkreten Hoffnungen angesichts der offenen Fähre wandelte die Aktion dann ihren Charakter, das Geschehen verselbständigte sich und die gefährliche Situation trat ein. Aus einem Versuch, der auf Verhandlungen, also letztlich auf Sichtbarkeit und Öffentlichkeit, zielte, wurde das von Behörden und Medien wahrgenommene Verstecken auf der Fähre. Und aus dem politischen Kontext wurde ein dubioser Hintergrund: Schmuggler.

Emblematischer Akt und Worst case

Im zeitlichen Kontext des Frühjahrs 2019 kamen Bewohner_innen der Camps mehrfach zu politischen Aktionen zusammen, etwa um am Strand von Calais den Grenztoten zu gedenken. Sie traten damit aus ihrer Rolle als Objekte behördlicher Maßnahmen, humanitärer Hilfe, politischer Fürsprache und medialer Text-/Bildproduktion heraus. Insofern war das Eindringen in den Hafen in einem emanzipatorischen Sinne emblematisch.

Wer Calais auch nur oberflächlich kennt, wird die materiellen und finanziellen Ressourcen wahrgenommen haben, mit denen das Hafengelände seit der Jahrtausendwende in eine Hochsicherheitszone verwandelt wurde. Immer wieder vereinbarten Großbritannien und Frankreich nicht nur den weiteren Ausbau dieser Sicherheitsarchitektur, sondern schufen zwischenstaatliche Kooperationsgremien zur Überwachung der Grenze, zur Sicherung des Verkehrsflusses und zur Bekämpfung der ‚illegalen‘ Migration. Die Vereinbarungen lassen die symbolische und strategische Priorität erkennen, die dem Hafen von Calais beigemessen wird. Diese zeigt sich auch in Berichtspflichten an die jeweilige Innenministerin bzw. den jeweiligen Innenminister. Der inzwschen weit fortgeschrittene Ausbau des Hafens mit dem Ziel, seine Kapazität stark zu erhöhen, wird diese Priorität kaum verringert haben.

Wenn 2019 also hundert oder zweihundert Personen über eine Diszanz von mehreren Kilometern an einen solchen Ort kommen, seine Sicherung überwinden und eine Fähre „besetzen“, wo das Schließen der Luke noch dazu eine lebensgefährliche Situation erzeugt, so dürfte schlicht ein Worst case-Szenario der Sicherheitsbehörden und der am Hafen- und Fährverkehr beteiligten Unternehmen eingetreten sein.

Vielleicht erklärt auch dies die Reflexhaftigkeit, mit der nach den aktuellen Ereignissen, über deren Verlauf kaum jemand etwas Genaues zu berichten wusste, sofort an den 2. und 3. März 2019 erinnert wurde. Die Vorstellung einer auch nur partiellen Fragilität der Grenzarchitektur scheint – ironischerweise in einer Phase ihrer massenhaften Umgehung mit Hilfe kleiner Boote – unerträglich zu sein.