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Calais

Rund einhundert Exilierte im Hafen von Calais?

Zäune an der Zubringerautobahn zum Fährhafen, aufgenommen im April 2018 (Foto: Th. Müller)

In der Nacht vom 13. Mai auf den 14. Mai haben rund einhundert Exilierte um kurz nach drei Uhr morgens einen Maschendrahtzaun durchtrennt und versucht, auf das Hafengelände oder auf Lastwagen zu gelangen. Gleichzeitig wurden auf der Hafenzufahrt Hindernisse aus Holzplanken und anderen Materialien errichtet, um Fahrzeuge in Richtung England zum Bremsen oder Anhalten zu zwingen. Dies berichten La Voix du Nord, NordLittoral (€), France Bleu, Le Figaro und DailyMail in ihrer jeweiligen Onlineausgabe.

Die Artikel in den genannten französischen Zeitungen basieren auf Mitteilungen der Präfektur und der Hafenbehörde, während die britische DailyMail auf dem – sehr persönlich gehaltenen – Bericht eines Transportunternehmers beruht. Während die Präfektur zunächst von einem Eindringen auf das Hafengelände und Durchtrennen des Zauns auf Höhe der Baustelle der Hafenerweiterung Calais Port 2015 sprach, ergänzte ein Sprecher der Hafenbetreibergesellschaft später, es sei bei dem Versuch geblieben. Er lokalisierte den Zwischenfall auf dem Hafenzubringer zwischen der Brücke über die Route de Gravelines und der letzten Kurve vor der Hafeneinfahrt.

Zusätzlich zu den Barrikaden auf der Straße kam es wohl auch zu Steinwürfen auf Lastwagen, bei denen ein Fahrer leicht verletzt wurde. Nach dem Eintreffen der Polizei setzte diese Tränengas ein und die Exilierten flohen, so dass es keine Festnahmen gab. Der gesamte Vorfall ist gegen vier Uhr morgens beendet gewesen, hat also zwischen zwanzig Minuten und einer Stunde gedauert.

Gelände zwischen der Route de Gravelines und der Kurve des Zubringers zum Fährhafen. Bis Oktober 2016 befand sich hier der „Big Jungle“ (Foto: Th. Müller, April 2018)

Geographische Ungereimtheiten

Aufgrund der geographischen Lage müssen die Präfektur und der Hafenbetreiber – gegebenenfalls zusammenhängende – Vorfälle an unterschiedlichen Orten beschreiben, oder aber eine der beiden Quellen irrt – mit Blick auf die ebenfalls berichteten Angriffe auf LKW und Barrikaden auf dem Zubringer erscheinen in diesem Fall die Angaben des Hafenbetreibers plausibler. Der von ihm angegebene Ort auf dem Hafenzubringer ist geeignet, um auf Lastwagen zu gelangen, die auf dem Weg in den Fährhafen sind, ist jedoch weit von der Baustelle von Calais Port 2015 entfernt, zumindest von jenen Teilen, bei denen überhaupt eine Chance besteht, zu Fuß in den Hafen zu gelangen. Im Artikel der Voix du Nord – der ausführlichste der hier angeführten Berichte – wird diese Unklarheit insoweit angedeutet, dass dem Autor der Hinweis wichtig ist, dass er keinen Zutritt zur Baustelle erhalten hat und mithin die Örtlichkeiten dort nicht selbst hat in Augenschein nehmen können.

Trotz der Ungereimtheiten, die von den berichtenden Journalisten kaum und von uns noch weniger geklärt werden können, scheinen die tatsächlichen Folgen überschaubar zu sein. Da der Polizei keine einzige Festnahme gelungen ist, und berichtet wird, der Fährbetrieb sei zu keinem Zeitpunkt in seinem Ablauf gestört gewesen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass es die Exilierten sonderlich weit in den Hafen geschafft haben. Wenn die tatsächliche Dimension des Vorfalls nicht überschätzt werden sollte, so darf seine symbolische und politische Dimension nicht unterschätzt werden. Dies zeigen die publizistischen und politischen Reaktionen.

Brücke der Route de Gravelines über die Zugängerautobahn zum Fährhafen (Foto: Th. Müller, Oktober 2016)

Publizistische und politische Reaktionen

Während France Bleu im wesentlichen die Agenturmeldung wiedergibt, gliedert die Voix du Nord ihren Artikel in drei Teile: Schilderung der – dürftigen – Faktenlage, Reaktionen seitens des Hafens und spektakuläre vorangegangene Aktionen seitens der Exilierten. Der NordLittoral titelt gleich mit der „beunruhigenden Wiederkehr von migrantischen Barrikaden auf der Hafenzufahrt“ und im Figaro nimmt vor allem die politische Forderung nach mehr „menschlichen und materiellen Ressourcen, um die Migrationssituation im Littoral zu regeln“ den größten Raum ein.

Die zitierte Reaktion des Vertreters der Hafenbetreibergesellschaft fällt auffallend drastisch aus; er spricht davon, dass es „dort viel zu viele“ Exilierte gebe, „es wieder anfange“ und „die ganzen Anstrengungen“ nicht lohnten, wenn man am Ende ein „beschmutztes Image“ habe, das „von den Migranten zerstört“ werde, die im übrigen „nicht einmal festgenommen würden“. Er beklagt eine mangelnde Polizeipräsenz an den bekannten “Schwachpunkten“ – im Bericht wird dies mit dem Verweis auf (erfolgreichen) Hafenbesetzungen 2019 und 2016 kontextualisiert.

Der Präsident der Regionalversammlung Haut de France, Xavier Betrand, spricht ebenfalls von zu vielen Exilierten in Calais und der Furcht, die Vergangenheit noch einmal erleben zu müssen. Er sieht nach einem kurzfristig anberaumten Treffen mit der Calaiser Bürgermeisterin Natacha Bouchart die Zentralregierung in der Pflicht: „Wir haben [2016] für die Räumung des Jungles und eine Regelung der Migrationslage im Littoral gekämpft. Der Staat ist Verpflichtungen eingegangen, die er nicht eingehalten hat“. Laut Bouchart haben Betrand und sie in einem Brief an den Premierminister konkret die Verstärkung der für migrations- und aufenthaltsrechtliche Fragen zuständige Polizeieinheit BMR (brigade mobile de recherche) sowie eine Abkehr von der – offenbar als übertrieben wahrgenommenen – “Verrechtlichung der Migrationsfrage“ gefordert.

Ein politischer point de fixation

Die massiven politischen Reaktionen scheinen auf den ersten Blick angesichts der anzunehmenden tatsächlichen Ausmaße des Vorfalls erstaunlich. Vermutlich ist niemand weit auf das Hafengelände gekommen, es dürften sich auch kaum nennenswerte Migrationsgelegenheiten eröffnet haben, und selbst wenn man den Eingriff in den Straßenverkehr und den leichtverletzten LKW-Fahrer berücksichtigt, stellt sich die Frage, ob es ohne die politischen Reaktionen ein so einschneidendes Ereignis gewesen wäre, das eine Intervention auf der Ebene des französischen Premiers rechtfertigt.

Man kann in Erwägung ziehen, dass sich Xavier Betrand im Juni einer Wiederwahl stellen muss und sich längst im Wahlkampfmodus befindet, ebenso, dass Natacha Bouchart über Jahre hinweg sehr großes Geschick darin bewiesen hat, mit Hinweis auf die “Migrationsfrage“ für ihre Stadt zusätzliche ökonomische und politische Ressourcen zu akquirieren. Man kann die politischen Reaktionen auch offensiv verstehen, nämlich als Versuch, das ungeschriebene Paradigma der Situation in Calais seit Räumung des großen Jungles zu verändern: die Exilierten werden nicht einfach verschwinden, aber der Staat verhindert, dass sich ihre Strukturen verfestigen. Allerdings dürften sowohl Bouchart als auch Betrand wissen, dass eine Politik, die die Exilierten dauerhaft aus der Region vertreiben könnte, rechtlich und tatsächlich kaum durchzusetzen sein dürfte.

Eine andere Interpretation ergibt sich, wenn man die Verweise auf den großen Jungle und die Fährbesetzung 2019 ins Zentrum stellt. Aus Sicht von Bouchart und Bertrand wäre nicht das tatsächliche Ausmaß des Vorfalls das Beunruhigende, sondern die Tatsache, dass Exilierte in größerer Zahl kollektiv und organisiert gehandelt haben. Ein point de fixation, den es aus Sicht dieser Politiker_innen seit Räumung des großen Jungles zu unterbinden gilt, muss sich also nicht in der Entstehung eines Siedlungsplatzes der Exilierten manifestieren, der eine kollektive Organisationsform hervorbringt, sondern jeder Akt der kollektiven Handlung der Exilierten wird als ein point de fixation, eine bedrohliche Verfestigung ihrer Präsenz in Calais gesehen, die jederzeit eine unkontrollierbare Eigendynamik entwickeln kann.

Für diese Interpretation spricht die Ursachenanalyse von Bouchart: die Exilierten seien von Schleuser_innen aufgehetzt worden. Sie kann dies nicht belegen, und die Vermutung erscheint absurd. Schleuser_innen dürften kein Interesse daran haben, dass sich die Exilierten Migrationsmöglichkeiten selbst organisieren, noch weniger daran, dass sie politische Aktionsformen wählen. Beides ist schlicht schlecht für ihr Geschäft.

Mit Blick auf die aktuell von den fortdauernden Räumungen bestimmten Lebensbedingungen der Exilierten in Calais, die sie zwingen, buchstäblich täglich die unmittelbarste Daseinsvorsorge neu zu organisieren, ist es allerdings bemerkenswert, dass es zu einer kollektiven Aktion überhaupt gekommen ist. Insofern ist der Vorfall tatsächlich emblematisch; er markiert nach dem Ende des großen Jungle, neben einer kurzlebigen politischen und publizistischen Selbstorganisation 2017/2018, der Fährbesetzung 2019 und den selbstorganisierten Bootspassagen – soweit uns bekannt – einen vierten Kristallisationspunkt, an dem die Exilierten in Calais nicht nur als Objekt einer staatlichen Repressionspolitik auftauchen, sondern als kollektiv organisiert handelnde Akteure.