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Calais

Alles rechtens, nichts mit rechten Dingen…

Räumungen und Enteignungen verschärft

Regelmäßige Räumungen der Siedlungsplätze der Exilierten in Calais sind integraler Bestandteil der staatlichen Abschreckungspolitik. Sie lassen sich zum einen der Strategie zuordnen, die Verfestigung von Siedlungsplätzen – sogenannte points de fixation – zu unterbinden. Zum anderen stellen sie – wie hier bereits dargestellt – Enteignungen dar.

Die Räumungen fanden bis Anfang April in einem 48-Stunden-Turnus statt. Am 6. April gab es eine Räumung außerhalb dieses Turnus, die mit der Wegnahme von persönlichem Eigentum im großen Umfang  verbunden war (siehe hier).

Am 28. April verschärften die Sicherheitskräfte laut den Human Rights Observers (HRO) die Räumungsstrategie erneut. Alleine an diesem Tag seien mit über 300 Stück deutlich mehr Zelte beschlagnahmt worden, als die Organisationen hätten ersetzen können. Daher mussten viele Exilierte an diesem Tag ohne jeden Schutz im Freien übernachten.

HRO auf Twitter zu den Räumungen am 28. April

Die verschärfte Politik der Vertreibung und Enteignung hat sich inzwischen verstetigt. Seit Ende April verlaufen die Räumungen für die Exilierten nicht mehr vorhersehbar. Es werden wesentlich mehr Zelte, Schlafsäcke und anderes der Daseinsvorsorge dienende Eigentum der Exilierten als bislang beschlagnahmt.

Bericht von HRO zu den Räumungen am 10. Mai

Inzwischen bringt die Zahl der beschlagnahmten Güter die Organisationen an die Grenze ihrer Kapazität. Sie befürchten, dass sie bald dauerhaft nicht mehr in der Lage sein werden, die beschlagnahmten Güter zu ersetzen.

Bericht von HRO über 52 beschlagnahmte Zelte am 12. Mai.

Ohne den Anspruch einer abschließenden rechtswissenschaftlichen Beurteilung zu erheben, soll an dieser Stelle ein genauerer Blick auf die juristischen Grundlagen der Räumungs- und Enteignungspolitik geworfen werden.

In Frankreich als Rechtsstaat steht eine Wohnung unabhängig davon, ob sie legal oder illegal bewohnt wird, unter einem besonderen gesetzlichen Schutz. Um jemanden aus seiner Wohnung zu vertreiben, gibt es dementsprechend hohe rechtlichen Hürden; in der Regel muss der Besitzer vor Gericht einen Räumungstitel erstreiten, was den Betroffenen die Möglichkeit bietet, vor der Räumung gehört zu werden. Grundsätzlich trifft dies auch für die prekären Wohnungen der Exiliert_innen zu. Die französische Rechtsprechung gesteht den Zelten von wohnungslosen Personen den gleichen rechtlichen Schutz wie einer Wohnung zu. In der Vergangenheit haben die Eigner der besiedelten Grundstücke durchaus den Aufwand betrieben, die rechtlich erforderlichen Räumungstitel zu erstreiten und damit der Präfektur und der Polizei die Politik der Vertreibung zu ermöglichen.

Allerdings ist eine illegale Besiedlung auf privatem Grund erst ab einem gewissen Zeitpunkt rechtlich geschützt. Wenn die Polizei sie bereits kurz nach ihrem Entstehen räumt, dann kann sie sich darauf berufen, eine illegale Tat in flagranti zu unterbinden. Für öffentlichen Grund gibt es diese Möglichkeit nicht, weil das öffentliche Campen zwar illegal sein, aber kaum so schwer wiegen dürfte, als dass die Polizei auf das Instrument der Entdeckung in flagranti zurückgreifen kann. In der von uns beobachteten Vertreibungspraxis spielt diese Rechtslage durchaus eine Rolle. Zum einen dürfte die Regelmäßigkeit der Vertreibung dazu dienen, die Fiktion des in flagranti aufrecht zu erhalten, zum anderen haben wir beobachten können, dass Exilierte bei der Räumung des Siedlungsplatzes ihre Zelte vorübergehend auf den Grünstreifen eines Parkplatzes aufgestellt haben und sich so der Räumung entziehen konnten.

Die Kommune hat daher versucht, für diese öffentlichen Bereiche am BMX-Camp einen gerichtlichen Räumungstitel zu erwirken – und ist gescheitert (siehe hier).

Das Verwaltungsgericht in Lille sah weder die von der Stadt behauptete Dringlichkeit, noch eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Siedlungsplatz der Exilierten als begründet an (siehe Infomigrants.net).

Die häufigen Räumungen sind bereits für sich genommen belastend für die Betroffenen. Die Polizei verschärft dies jedoch dadurch, dass sie die Gegenstände der Exilierten faktisch enteignet, indem sie ihnen die Zelte, Schlafsäcke und weitere Gegenstände der Daseinsvorsorge wegnimmt und teilweise entsorgt oder in ein Depot am Rande der Stadt bringt. Diese Vorgehensweise hat nur eine dürftige und konstruiert erscheinende rechtliche Grundlage.

Zwar könnte die Polizei die Gegenstände als Beweismittel sicherstellen, aber dann müsste sie sie aufbewahren. Stattdessen hindert sie die Exilierten, sie mitzunehmen, um sie dann, unmittelbar nach der Räumung rechtlich als herrenlose Gegenstände anzusehen und nach willkürlich anmutenden Kriterien entweder zu entsorgen oder ins Depot zu bringen.

Die Abkehr von den regelmäßigen Räumungen macht deutlich, dass die Enteignungen kein Nebeneffekt der Vertreibungen, sondern ihr zentrales Element sind, dass mit dem nicht erreichten Räumungstitel für den öffentlichen Bereich eben die Enteignungen sichergestellt werden sollten. Dies deckt sich übrigens mit unserer Beobachtung, dass der öffentliche Grund anscheinend gar nicht dauerhaft besiedelt war. Er wurde von den Exilierten genutzt, um ihre Habseligkeiten vor den absehbaren Räumungen in Sicherheit zu bringen. Da dies nicht mit einem Räumungstitel unterbunden werden konnte, soll dies jetzt anscheinend durch Unvorhersehbarkeit der Räumungen erreicht werden.