Die Zunahme der Bootspassagen, die tödliche Havarie am 24. November und der Hungerstreik vom 11. Oktober bis zum 17. November haben die Lage der Exilierten verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Mehrfach äußerte sich der französische Innenminister Gérald Darmanin in diesem Kontext zu Gewaltvorwürfen gegen staatliche Behörden, die er teils bestritt und teils relativierte. In einer parlamentarischen Anhörung äußerte er sich am 7. Dezember nun auch zum Zerschneiden von Zelten, das bei Räumungen in Grande-Synthe seit einem Jahr wiederholt dokumentiert worden ist. Ein Mitarbeiter einer Reinigungsfirma wurde dabei zum Bauernopfer.
Ende 2020 hatte der Calaiser Journalist Louis Witter das routinemäßige Zerschneiden von Zelten durch eine Fotoserie (siehe oben) ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Seitdem wurde sie wiederholt von Human Rights Observers und Utopia 56 dokumentiert (siehe u.a. hier). Das Zerschneiden fand im Verlauf der Räumungsoperationen statt, oft zu einem Zeitpunkt, an dem noch Exilierte auf dem Gelände anwesend waren. In der Regel befand sich niemand mehr in den Zelten, allerdings wurden auch Fälle bekannt, bei denen sich noch jemand darin aufhielt, wenn der Schnitt angesetzt wurde. Meist zeigen die Aufnahmen einen Mann im blauen oder weißen Overall, das Gesicht schwarz bedeckt, der mit einem großen Messer die Zeltwände zerschneidet oder die Zeltschnüre kappt – ein Anblick, das durchaus retraumatisierend wirken kann. Die Fotos besitzen eine hohe Symbolkraft und machten den anonym bleibenden Mann mit dem Messer zur Personifizierung der strukturellen Gewalt gegenüber den prekären Camps und ihren Bewohner_innen.
Vor dem Rechtsausschuss der Nationalversammlung erklärte der Innenminister nun: „Eine Firma, ich werde sie nicht nennen, weil die Person entlassen wurde, hat die Zelte durch Zerschneiden entfernt, um sie anschließend in den Container zu werfen […]. Es waren keine Polizisten-Gendarmen.“ Aus weiteren offiziellen Statements geht hervor, dass das Innenministerium die Reinigungsfirma angewiesen habe, keine Zelte mehr zu zerschneiden.
Dem Mann mit dem Messer ist also gekündigt worden, und in gewisser Weise fungiert er dadurch erneut als Symbolfigur. Er, der als Aushilfskraft einer Reinigungsfirma am unteren Ende der Hierarchie gearbeitet hat, ermöglicht es dem Minister, das Systemische der Gewalt zu bestreiten, indem er sie individualisiert, so als habe der Mann heimlich einen Gewalttrip ausgelebt. Während eines Hintergrundgesprächs, das wir Ende Oktober in Dunkerque über die Räumungen in Grande-Synthe führten, kamen wir auf den Mann mit dem Messer zu sprechen. Wir erfuhren, dass er jemand sei, der diesen Job nicht gern mache. Aber die Gegend um Dunkerque und Calais gehörte zu den ärmsten Regionen Frankreichs und ein Job als Reinigungskraft bei der Ramery-Gruppe – dies ist die von Darmanin nicht genannte Firma – sei keiner, den man ohne Not annehme.
Vermutlich trifft es zu, dass Polizei und Gendarmerie in Grande-Synthe nie selbst Zelte mit Messern zerschnitten haben. Allerdings ist dies nur die halbe Wahrheit, denn zahlreiche Bilddokumente zeigen, dass das Zerschneiden in ihrem Beisein stattfand. Nach der Erklärung Darmanins vor der Nationalversammlung veröffentlichte Utopia 56 am 8. Dezember ein Foto, das zwei Polizisten und einen Gerichtsvollzieher zeigt, wie sie dem Zerschneiden einer Behelfshütte aus Planen zuschauen (siehe oben). Drei Männer in weißen Overalls, offenbar Beschäftigte von Ramery, sind mit dem Zerschneiden beschäftigt, weitere schauen zu. Weder gegenüber seinem Arbeitgeber, noch gegenüber den staatlichen Behörden hat der entlassene Mann also eigenmächtig gehandelt.
Gegenüber der Lokalzeitung La voix du Nord gab die Ramery-Gruppe trotz mehrfacher Anfrage keine Stellungnahme ab. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen der Geflüchtetenhilfe hingegen kritisierten das offensichtliche Bauernopfer. Die Human Rights Observers zitierten Darmanin mit der Aussage, man werde die Zelte von nun an „direkt in den Müll bringen, ohne sie zu zerschneiden“. Dieser Satz bringe die ganze „Absurdität der Politik“ auf den Punkt: „Nicht mehr zerschneiden, direkt entsorgen!“. Noch am 29. November hatten die Human Rights Observers darauf hingewiesen, dass das Zerschneiden von Zelten nicht beendet worden sei und sich manchmal weiterhin Personen im Zelt befänden.
Louis Witter, dessen Fotos die Aufmerksamkeit auf den Mann mit dem Messer gelenkt hatten, schrieb nach Darmanins Erklärung vor dem Rechtsausschuss der Nationalversammlung: „Die Schuld auf die Aufhilfskräfte der Ramery-Gruppe zu schieben, die lediglich die vom Staat festgelegten Vorgaben erfüllten, ist an Zynismus kaum zu überbieten.“ Das Ziel bleibe das gleiche, ob mit oder ohne Einsatz eines Messers. Zwar habe Witter tagesaktuell keine Fälle von Zerschneiden mehr beobachtet, aber weiterhin würden Zelte zerstört. „Am Ende sind es nie die Zelte, die gewinnen.“