[Update, 3. Januar 2022] Bei einer Räumung in der Calaiser Nachbargemeinde Marck kam es am gestrigen 30. Dezember 2021 zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizeieinheit CRS und Bewohner_innen eines Camps. Auslöser war die Beschlagnahme von Zelten und insbesondere der Umstand, dass die Besitzer_innen nicht mehr ihre persönlichen Sachen aus den Zelten holen konnten. Die Gegenwehr mündete einer in größeren Auseinandersetzung zwischen Exilierten und CRS, die sich auf ein benachbartes Wohngebiet ausweitete und in deren Verlauf die Polizei massiv CS-Gas einsetzte.
„Die Polizei kam, um ein paar Zelte zu holen. Wir haben sie abgewehrt“, zitiert die Zeitung La Voix du Nord einen der Geflüchteten. Eine Vertreterin von Human Rights Observers erklärte im gleichen Artikel, der Polizeikordon habe die Bewohner_innen des Camps zurückgedrängt, „ohne dass sie ihre Sachen aus den Zelten holen konnten, das war der Auslöser für die Spannungen.“ Die Menschenrechtsgruppe ergänzt, dass „mindestens 32 Zelte beschlagnahmt und andere zerstört“ worden seien.
Solche Beschlagnahmungen sind bei Räumungen gängig. Allerdings hatten die Behörden während des Solidaritäts-Hungerstreiks im Oktober und November zugesichert, dass die Betroffenen vor den Räumungen zumindest gewarnt und ihnen die Möglichkeit gegeben werde, ihre persönlichen Sachen zu holen. Doch ist ein solches Verfahren nie wirklich implementiert worden und wurde nach dem Ende des Hungerstreiks faktisch zur Makulatur. Die Ressourcerie – ein Schiffscontainer, in den ein Teil der beschlagnahmten Gegenstände zwischengelagert wurde und von den Besitzer_innen abgeholt werden konnte – wurde geschlossen und ein nach dem Hungerstreik geschaffener Ersatz in Form eines größeren Zeltes ist noch nicht in Betrieb. Verschärfend kommt hinzu, dass Räumungen während der vergangenen Wochen bei Frost und danach bei stürmischem und regnerischem Wetter weitergeführt wurden. Während der Weihnachtstage fanden an zwei aufeinanderfolgenden keine Räumungen statt, offenbar damit Polizei und Gendarmerie die Möglichkeit zum Feiern hatten. Danach wurden die ‚ausgefallenen‘ Räumungen sozusagen nachgeholt.
Bei der aktuellen Auseinandersetzung auf dem als Old Lidl bekannten Gelände, auf dem vor allem Menschen aus dem Sudan leben, war die Polizei mit einem ungewöhnlich starken Aufgebot präsent. Nach Angaben der Zeitung stellten sich „etwa 100 Personen […] den Ordnungskräften entgegen“; der Präfektur zufolge weigerten sie sich, das Gelände zu verlassen, und warfen mit Steinen. Die Polizei ihrerseits setzte CS-Gas und Gummigeschosse ein. Das Gelände „ertrinkt gerade in Tränengas“, beschreibt der Journalist Louis Witter die Heftigkeit des Gaseinsatzes. Die Auseinandersetzung verlagerte sich außerdem über ein Bahngleis hinweg, das das Old Lidl-Gelände begrenzt, in mehrere Straßen eines benachbarten Wohngebiets.
Anwohner_innen schilderten gegenüber La Voix du Nord heftige Szenen: Sie hätten eine Situation „wie in einem Bürgerkrieg“ erlebt, ein „Nebel aus Tränangas“ habe über den Vorgärten gehangen und überall hätten CS-Gas-Kartuschen und Steine herumgelegen. Auch das Kollektiv Faim aux frontières, das sich zur Zeit des Hungerstreiks gebildet hatte, nutzte die Kriegsmetapher, um das Verhalten der Polizei anzuprangern. Von einem „völlig unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt“ sprachen etwas nüchterner die Human Rights Observers.
Der Präfekt des Pas de Calais veröffentlichte am gleichen Tag eine Erklärung, in der er von einem aggressiven Verhalten und Steinwürfen der Exilierten spricht und ihnen die Schuld an der Eskalation zuweist, bei der etwa 15 Beamte verletzt worden seien. Er verurteile „diese Gewalttaten aufs Schärfste und unterstützt die verletzten Polizisten und Gendarmen voll und ganz“. Später sprach Mickaël Duval, Regionaldelegierter der Polizeigewerkschaft UNSA Police, in La Voix du Nord von acht verletzten Gendarmen und insgesamt 40 teils schwer verletzten Personen. Er erklärte: „Die Kollegen haben sofort gespürt, dass es kompliziert werden würde und dass die Lage eskalieren würde“, und äußerte die Befürchtung, dass sich die Situation „angesichts der momentan sehr angespannten Lage wiederholen“ könne. Nicht zuletzt forderte er eine bessere Ausstattung der Polizei.
Über die Verletzten unter den Geflüchteten ist bislang wenig bekannt. Human Rights Observers und andere Gruppen berichteten unmittelbar nach dem Geschehen von drei Verletzten. Nach einem Bericht von InfoMigrants hatte einer von ihnen ein auf das Doppelte des Volumens angeschwollenes Bein, vermutlich infolge eines Gummigeschosses.
Die Auseinandersetzung wird das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den Bewohner_innen des Old Lidl-Geländes und denen der benachbarten Straßen weiter verschlechtern. Dieser latente Konflikt war von konservativen Politiker_innen in den vergangenen Monaten bereits als Bühne genutzt worden, um sich gegen Migrant_innen zu positionieren. Das schon lange genutzte Gelände war 2021 zum Zufluchtsort für weitere Exilierte geworden, die von ihren Lebensorten im Südosten von Calais verdrängt worden waren. Im November hatten Geflüchtete und zivilgesellschaftliche Gruppen zweimal eine Blockade gegen eine Räumung durchgeführt, die im ersten Fall von Erfolg gekrönt war (siehe hier). Danach war die Zufahrt zum Gelände durch einen Wall, einen Graben und Steinklötze versperrt worden, um die Organisationen daran zu hindern, Nahrung und andere Hilfsgüter auf das Gelände zu bringen (siehe hier). Kurz zuvor war nach dem Vorbild der Nachbarstadt Calais ein entsprechendes Verbot ergangen. In einem weiteren Schritt erfolgte eine größere Räumungsoperation, bei der nach Polizeiangaben 34 Bewohner_innen in Aufnahmezentren (CAES) außerhalb der Grenzregion gebracht wurde. Nebenher erlangte das Camp durch ein skurriles Video vom 19. Dezember mediale Aufmerksamkeit.
Die aktuelle Auseinandersetzung reiht sich in diese Konfliktgeschichte ein, die unmittelbar aus der Zermürbungstaktik gegenüber den Exilierten in Calais resultiert und auf dem Old Lidl-Gelände noch einmal brachial zugespitzt wurde. Kurz vor Weihnachten hatten die Einsatzkräfte die Bewohner_innen sogar daran gehindert, auf dem Umweg über das Bahngleis zur Essensausgabe zu gehen.
Am Tag nach der Eskalation besuchte ein Lokalreporter das Gelände und beschrieb seine Eindrücke: „Einige spielen Fußball. Andere laufen, um Wasserkanister zu holen. Wieder andere zünden ein Feuer an. Alle Mittel sind recht, um sich aufzuwärmen. Von den Zusammenstößen am Vortag […], ist nicht mehr viel übrig, außer den Hülsen der Tränengasgranaten der CRS. Auf dem Boden sieht man auch einige Steine, die ‚Munition‘ der Exilanten gegenüber der Polizei. Niemand spricht die Ereignisse des Vortags an. Ein Sudanese fragt, ob es möglich sei, eine Daunendecke zu bekommen, denn ‚es ist kalt‘. Ein anderer zeigt auf die abgenutzte Sohle seines Turnschuhs, die sich ablöst. ‚Es war wirklich gewalttätig‘, berichtet Hassan aus dem Tschad, der sein Zelt schnell beiseite geräumt und die Unruhen aus der Ferne beobachtet hatte.“
Am 2. Januar 2022 führte ein ungewöhnlich großes Polizeiaufgebot von 180 Einsatzkräften die am 30. Dezember misslungene Räumung zu Ende. Ziel des Einsatzes war es laut La Voix du Nord, das Camp aufzulösen und Festnahmen von Personen durchzuführen, die mit den Steinwürfen in Verbindung gebracht werden können. Dabei wurde erneut CS-Gas eingesetzt. Die Zeitung zitiert den Direktor für öffentliche Sicherheit des Departements mit der Aussage: „Wir mussten anfangs einige Geschosse (Tränengas) einsetzen, um die Migranten in Bewegung zu bringen, aber insgesamt lief es gut“.
Ein Videozusammenschnitt belegt den CS-Gas-Einsatz und zeigt einen Polizeitrupp, der Exilierten von den Zelten fortjagt; in einer anderen Szene werden die Human Rights Observes brachial an ihrer Arbeit gehindert und vom Gelände gedrängt. Weitere Aufnahmen zeigen die Zerstörung von Zelten. Nach Behördenangaben hatten die Bewohner_innen eine halbe Stunde Zeit, um ihre Sachen an sich zu nehmen. Nach Aussage der Human Rights Observers gegenüber InfoMigrants betrug die Frist zwischen der französischsprachigen Ankündigung der Räumung und ihrer Durchführung lediglich etwa zwei Minuten. Die Organisation charakterisiert die Operation als „Vergeltung“ und vermutet, dass den Exilierten bewußt nicht die Gelegenheit gegeben worden sei, sich ihren Besitz zu holen.
Während der Räumung wurde ein Exilierter festgenommen. Ein anderer musste nach einem „Schwächeanfall“ (La Voix du Nord) behandelt werden. Alternative Unterkünfte bzw. Transfers in CAES wurden den Geräumten nicht angeboten.